Prolog
Der gräuliche Himmel war von massigen Wolken durchsetzt, die nun endgültig die letzten gleißenden gelblichen Sonnenstrahlen verschluckten.
Es schneite schon seit einigen Stunden und so lag nun ganz Silvercoast Island unter einer weiße Decke.
Seit der Vorweihnachtszeit war es still geworden auf der Insel.
Nur in einem Haus brannte noch Licht. Es war Jack Jasras Haus. Ein hölzerner Bau, der gut einen Meter über den Strand lag und in die steile Klippe der Insel eingebaut war. Durch die Fenster, die schon leicht vom verwehten Schnee eingerahmt waren, strahlte ein warmes Orange in diesen frühen kühlen Nachmittag hinaus.
Durch die Fenster konnte man vier Leute lachend an einem weihnachtlich gedeckten Tisch sehen. Die Wände waren festlich dekoriert, im Wohnzimmer hingen Weihnachtssocken und ein Adventskranz, während der Eingangsbereich durch ein Geflecht aus Tannenzweigen geschmückt war. Ein opulenter Weihnachtsbaum mit brennenden Kerzen stand nahe beim Tisch, auf dem eine weiße Decke mit bunten Strickmustern lag und von einer großen gusseisernen Laterne erhellt wurde.
Von draußen wirkte die Szenerie im Haus sonderbar. Die Leute schienen sich alte Geschichten zu erzählen, mal gestikulierte einer wild mit den Händen, mal schlugen sich die anderen vor Lachen auf die Schenkel. Ihr Lachen verblieb in den Räumlichkeiten, draußen war es totenstill. Nicht einmal der Wind war zu hören.
Das Meer bewegte sich leicht. Um die Insel herum hatte sich in einiger Entfernung Nebel gelegt, so dass das Festland nicht mehr zu sehen war.
Aus dem Schornstein stieg plötzlich stark Rauch empor. Durch das Fenster konnte man nun eine Person sehen, die gebückt vor dem Kamin stand und Holz nachschob. Eine andere Person stand mit verschränkten Armen daneben.
Es waren Chris und Jack Jasra.
»Wenn der Kamin fast leer ist, spürt man schon quasi die Kälte einziehen«, sagte Jack.
»Schön, wie das prasselt«, sagte Chris, der mit verschränkten Arme davor stand. Er wurde gleichmäßig vom Kaminfeuer gelblich-rötlich angestrahlt und in seinen Augen schimmert die Glut von einbrechenden Holzstücken.
»Na, fackelt ihr mal wieder alles ab?«, fragte Steffen. Er war heute vormittag angereist. Dazu hatte er extra sein altes Ruderboot aus dem östlichen Trockendock im Hafen von Heela geholt.
Chris und Jack begaben sich zum Tisch.
»Ach, sagst du, wo du doch vorletzten Sommer fast deine ganze Bude abgefackelt hast«, entgegnete Jack.
»Echt? Erzähl«, meinte Cosmo. Er war schon seit gestern Mittag da, weil die Fähre nach Heela heute nicht mehr fuhr.
»Gleich, gleich«, sagte Jack, »aber erst brauchen wir noch etwas Pronteulöl für die Laterne, die flackert schon so siechend. Kannst du aus dem Keller eine Flasche holen, Chris?«. Chris nickte und ging langsamen Schrittes zur Treppe. »Ich erzähl euch die Story gleich, aber erst warten wir noch auf Chris, der kennt sie glaube ich auch noch nicht«, meinte Jack.
»Hmm… okay«, sagte Cosmo leicht geknickt.
»Komm, die paar Minuten kannst du ja wohl noch warten«, sagte Jack.
»Also, nee ich bin grad deshalb leicht unglücklich, weil die Keksdose leer ist«, sagte Cosmo.
»Dem kann ich nur zustimmen«, entgegnete Steffen.
»…da hab ich was für euch Freunde«, sagte Jack und hob die Augenbrauen schnell hintereinander, »in der Küche ist noch Weihnachtsstollen«.
»Klasse, dann werde ich denn mal schnell holen gehen«, sagte Steffen und stand auf.
»Geiääl, hast du den selbst gemacht?«, fragte Cosmo.
»Natürlich, mit freejanischer Marzipancreme«, sagte Jack voller Stolz. Draußen fing langsam an der Wind aufzudrehen. Die Schneeflocken wirbelten nun leicht vor dem Fenster her. Jack und Cosmo schauten raus, doch Cosmo ließ schon schnell wieder den Blick durchs Wohnzimmer streifen und blieb am Teppich hängen.
»Hmm…«, sagte Cosmo.
»Soo, da bin ich wieder«, meldete sich Chris zurück, der die Kellertreppe aufgestiegen kam.
»Da ist eine Beule im Teppich«, sagte Cosmo und trat mit seinem Fuß mehrere Male drauf.
Aus der Küche hörte man, wie ein Messer auf die Küchenplatte abgelegt wurde. Steffen kam aus der holzgetäfelten Küche wieder, die ebenso weihnachtlich geschmückt war und durch viele Kerzen warm ausgestrahlt war. Er hielt einen Teller in der Hand, auf dem ein herrlich duftender, in Scheiben geschnittener Weihnachtsstollen lag.
»Dann wollen wir mal«, sagte Chris, der eine offene Flasche mit dem Pronteulöl in den Händen hielt und zum Tisch schritt.
»Endlich«, sagte Cosmo, als der Hubbel aus dem Teppich rausgetreten war. Der Teppich wellte sich leicht und plötzlich tat sich im Teppichrand eine Schwelle hervor.
»Uh-Gott«, sagte Chris, der über die eben geschaffene Schwelle stolperte und das Öl über die Laterne vergoss. Sofort trat daraus eine Stichflamme hervor. Vor lauter Schreck kam Steffen ins Stolpern und versuchte um jeden Preis, den Weihnachtsstollen nicht fallen zu lassen, weswegen er sich an die Tanne festhielt. Sie fiel krachend um und wurde von der Stichflamme erfasst.
Durch das Öl ging sie lichterloh in Flammen auf und das Wohnzimmer strahlte nun im beißend hellen Licht. Es wurde unerträglich heiß.
»OH GOTT, ZURÜCK«, schrie Jack und Chris, Cosmo und Steffen versuchten sich so schnell wie möglich zu entfernen.
Es knisterte laut und der Stamm zerbrach krachend in zwei Hälften.
Jack rannte in die Küche, füllte einen Eimer mit Wasser und schüttete ihn geistesgegenwärtig über den schon halb verbrannten Tannenbaum.
»Alter Schwede«, sagte Chris.
»Aha… also so bildlich hättet ihr Steffens Story gar nicht nacherzählen müssen«, sagte Cosmo nach einem kurzen Schreckmoment.
Kapitel 1
Verdammt! Dachte ich, als ich die verkokelten Überreste des Weihnachtsbaums betrachtete.
Verdammt! Dachte ich, als ich die verkokelten Überreste des Weihnachtsbaums betrachtete.
»Leute, wie zum verkackten Teufel habt ihr das hinbekommen, den Weihnachtsbaum abzufackeln?!«, rief ich leicht angenervt – den Eimer noch leicht gereizt in der Hand.
»Ähm… Naja… der Teppich und so..« Chris wirkte etwas beschämt, wahrscheinlich weil er ja so extrem behindert über den Teppich flog. Cosmo pfeifte und sah ganz unschuldig durch die Gegend während Steffen sich derweil bereits ein Stück Weihnachtsstollen in den Mund stopfte – und zwar ein ziemlich Großes, weil er sich gerade nicht bei dieser peinlichen Situation zu Wort melden wollte.
Ich packte beide Hände aufs Gesicht und holte danach tief Luft.
»Gut, Leute. Dann müssen wir auf die Schnelle einen neuen Baum auftreiben.«, sagte eich zu den anderen.
»Wir könnten da ja mal auf den Weihnachtsmarkt vorbei sehen! Wer weiß, wen wir da begegnen.«, meinte Chris.
»Und fwir khönnen unfs da fwas zu fwressen fholen!«, rief Steffen mit vollem Mund, während Brocken von Weihnachtsstollen durch die Gegend schossen.
Jetzt hatten wir einen verstummelten Baum im Zimmer, vier ratlose Typen und extrem wenig Zeit. Aber der Weihnachtsmarkt klang wirklich nach einer guten Idee. Es dauerte auch nicht lange, bis wir uns unsere Jacken und Mäntel umgeworfen hatten und durch meine Vordertür in die eisige Kälte hinaus sind. Ich ging als Letzter raus und verschloss hinter mir die Tür.
Am verschneiten Hafensteg von Silvercoast Island ging ich bereits in Richtung meines Ruderbootes, wo ich jedoch bemerkte, dass es doch etwas zu klein war für vier Personen und einem Weihnachtsbaum später.
»Wir nehmen besser mein Boot«, meinte Steffen, das tatsächlich größer war. Wir setzten uns alle vorsichtig in sein Boot rein und machten uns auf den Weg zum Hafen von Halunzia.
»Das macht 12 Rupees.«, nuschelte der gelangweilte Taxifahrer, während ich ihm das Geld mit einem Ruck ins Fenster warf. Ich war immer noch etwas sauer, dass wir alle es hinbekommen hatte, den so prachtvollen Weihnachtsbaum einfach abfackeln zu lassen.
»Jaack, du musst das nicht an den Taxifahrer auslassen. Ganz entspannt sein!« Cosmo versuchte mich zu beruhigen, aber so richtig funktionierte es nicht.
»Ich bin absolut entspannt. Ich bin die verkackte Ruhe in Person! Los, lass uns nun diesen Verkäufer finden.«
»Gute Idee. Wir werden schon den absolut besten Baum der Welt finden!« Chris war wieder viel zu optimistisch. Es fing an ganz sanft zu Schneien und es war mittlerweile auch schon fast komplett dunkel. Wir gingen die Hauptstraße von Heela entlang, die uns direkt zu dem Weihnachtsmarkt führen sollte. Die warmen Laternen gaben einen wunderschönen Kontrast zu dem kalten Schnee. Viele Häuser waren festlich dekoriert und so gut wie alle Menschen, die uns entgegen kamen, waren auch schon komplett in Weihnachtsstimmung – singend, lachend, hier und da mit einer Weihnachtsmütze auf dem Kopf.
»Seht euch an wie fröhlich die alle sind! Die kommen sicher vom Weihnachtsmarkt! Vielleicht treffen wir da ja Simon Mätschmer.«, meinte Cosmo ganz anstrengend.
»Ganz sicher wird der da sein.«, sagte ich voller Sarkasmus mit einer gehobenen Augenbraue.
»Anstrengenheitsfaktor 10.«, fügte Chris hinzu.
Als wir so miteinander quatschten, tat sich plötzlich vor uns der überaus beeindruckende, fast schon magische und warm leuchtende Schriftzug „Heela Weihnachtsmarkt“ vor uns.
»Verdammt. Leute, seht euch das an.«, sagte ich in einer tiefen, erstaunten Stimme.
»Wunderschön.«, fügte Chris in derselben Tonlage hinzu.
Als wir den Schriftzug passierten und wir so langsam an den großen Ständen vorbei kamen, überkam mich ein wundervoller Geruch von Zimt, Mandeln und wohl eine Spur Traube – denn Glühwein gab es hier auch zuhauf.
Steffens Augen wurden plötzlich ganz groß und er fing an nervös und laut zu schnaufen.
»DA!«, rief er und sprintete zu einem Stand, der Weihnachtsgebäck verkaufte und rannte dabei fast ein kleines Kind um.
»Oh Gott… Den sehen wir erstmal nicht mehr. Ist ja wie Tessi bei nem Schuhstand.«, sagte ich.
»Jaaaack! Niiicht!«, Chris lachte und schüttelte an mir, während Cosmo neugierig nach irgendwelchen halbbekannten Menschen suchte.
Kapitel 2
»So, dann wollen wir mal fix nen schönen Tannenbaum kaufen«, sagte Jack und schritt durch die Gassen.
Ein schönes fröhliches Flötenspiel begleitete uns. Man konnte den herrlichen Duft von Apfelpunsch überall riechen. Hinten den Gang runter stand hinter einer Tischbank ein Förster, der gerade das etwas lieblos beschriebene Schild “Weihnachtsbäume zu verkaufen” einklappte.
Tatsächlich, die ersten bauen ihre Stände ab. Kein Wunder, ist es schon früher Nachmittag. Man konnte von weiten ein paar Krähen schreien hören.
Wir bogen links ab. Der Gang war von vielen Holzhäusern gesäumt, die Spekulatius, Weihnachtsstollen und Punsch verkauften.
Was für eine Überraschung. In der Menge vor der Punsch-Hütte machte ich Finn aus, der pöbelnderweise Punsch verschüttete. »Kaackeee!«, bölkte er rum.
»Na, wie is die Lage?«, fragte ich. »Hey, Chris, Jack und Cosmo. Was macht ihr denn hier so?«, antwortete Finn. Der sich am Tisch festhielt. »Wir suchen noch ne Weihnachtstanne«, antwortete ich. »Hast du einen Stand gesehen?«, fragte Jack. »Oder Steffen?« sagte Cosmo leise und eher zu sich selbst.
»Aaalso… Der Reihe nach… …«, meinte Finn und schaute erst Cosmo ganz durchdringend an und ließ dann den Blick einmal durch die Runde wandern.
Ich nickte seitlich mit dem Kopf, ob denn noch eine Antwort käme. Er starrte weiter, bis er plötzlich fragte: »Hä? Was denn los?«.
Wir schauten uns nachdenklich an. Er war wohl heute nicht mehr wirklich brauchbar. »Wo ist Ül? Ihr müsst ihn unbedingt den Stand auf der Westseite zeigen. Da gibt es Feueröfen aus Kalkstein – deeer Hit«, sagte Finn, griff sich einfach von der Theke einen scheinbar herrenlosen Punschbecher und leerte ihn in zwei Zügen.
»Jaja, aber einen Stand mit Weihnachtsbäumen?…«, fragte Jack noch mal. »Jaaa logo, daa hier … äh geht mal nach da hinten.«, sagte Finn und zeigte die Gasse weiter runter. »Und wo da?«, fragte Cosmo und Finn rülpste einmal laut über den Marktplatz. »Jawoll«, merkte ich an. »Gaanz hinten rechts«, sagte er und hatte mysteriöserweise schon wieder einen neuen Punschbecher in der Hand.
»Sauber, danke dir. Wir hören noch. Und untertreibe es bloß nicht«, sagte ich lachend und wir zogen weiter.
Und tatsächlich, am Ende der Gasse lag tatsächlich ein noch liebloser hergerichteter Tisch als beim ersten Weihnachtsbaum-Stand zwischen den festlich geschmückten und schön beleuchteten Holzhäusern.
Wir schritten heran. »Schönen guten Tag«, sagte Jack und ein kleinwüchsiger, sehr korpulenter Mann mit Vollbart und verrußtem Haar drehte sich zu uns um. Wie ein typischer Förster mit einer Holzfäller-Bescheinigung wirkte er nicht gerade. »Was wollense«, brummelte der bärtige Verkäufer.
Was für ein Arsch, dachte ich. »Kekse und Stollen«, sagte Cosmo sehr sarkastisch. »Halt mal deine Leiste. Hier gibts nur Tannenbäume«, raunzte der Verkäufer und spuckte dabei leicht um sich. »Aha… mit Bewässerung«, sagte Cosmo noch ironischer, aber der Verkäufer rallte es nicht. »Ja, dann zeigen Sie doch mal ihre guten Stücke«, sagte ich. »Hä, hast was aufn Augen, Bursche, oder wat? Das sinse hier doch«, raunzte der Verkäufer und zeigte auf drei groß geratene Tannenzweige. »Bitte? Das ist doch nicht ihr Ernst«, sagte Jack noch halb gefasst.
Der Verkäufer grunzte: »Pass mal auf, du Spaten. Du musst hier nichts kaufen. Du kannst es«. »Ja, Tannenbäume, nicht Tannenzweige. Die hier sind doch nicht mal für meinen Kamin gut«, sagte Jack nun leicht angesäuert.
»Ich nehme gerne den mittleren. Was bekomme ich dafür?«, sagte ich nun auch sarkastisch. Der Verkäufer bekam große Augen und schnaubte. »Pass mal auf, du dreckiger Scheißarsch«, setzte er an, aber ich unterbrach ihn: »Was ist denn nun? Für nen Zwanni nehm ich ihn mit. Und um Ihre Laune dauerhaft zu bessern, noch für lau gleich Ihren Seuchenfänger von Mantel«, sagte ich platt.
Der Verkäufer haute vor Wut auf den Tisch, bückte sich und zog unter dem Tisch eine Flinte hervor. Er schoss einmal in den Boden, es knallte laut und die Luft zitterte förmlich, und richtete dann sogleich die Waffe auf uns. Das kann doch nicht wahr sein, dachte ich. Wir rannten hilfeschreiend weg und hörten die Kugeln über uns wegfliegen. »Stehenbleiben, ihr Penner«, fluchte der bärtige Verkäufer und lief uns nach.
Wir bogen um die Ecke und verließen den Weihanchtsmarkt zur Ostseite. Wir waren im Industriegebiet. Die Straßen waren leer. Die großen Gebäude lagen im Dunkeln, nur der Kopfsteinpflaster wurde von viel zu weit auseinanderstehenden weißstrahlenden Laternen ungleichmäßig angeleuchtet.
»Scheiße, wohin?«, fragte ich Jack. Wir blieben für einen Moment stehen und sahen uns um. Aber Jack schaute mich auch nur ratlos an. In der Nähe hörten wir die Schüsse hallen.
Kapitel 3
Ganz außer Atem sprinteten wir zu dritt den leicht beschneiten Weg entlang wieder in Richtung Weihnachtsmarkt – hinter uns immer noch dieser um sich schießende Verrückte. Die Straße bog um die Ecke – ich verlor beinahe das Gleichgewicht, als ich ziemlich unsanft im Schnee schlitterte. Ich konnte mich aber zum Glück noch fangen und setzte wieder nach vorne an. Im Augenwinkel entdeckte ich eine offene Tür im Gebäude, was sich rechts vor uns befand. Es schien keine Wohnung zu sein, der Beschildung zu urteilen. Ich konnte jedoch den Text nicht lesen, da er zugeschneit war.
»Los! Hier rein!« Ich hechtete zur Tür – Chris stolperte und rannte mich um den Haufen. Cosmo konnte in der Dunkelheit auch nichts sehen und fiel direkt mit auf den Haufen.
»Aua, passt doch besser auf ihr Zipfelklatscher!«, sagte Cosmo fast schon wütend.
Wir krochen auseinander und packten uns so langsam wieder auf die Beine. Chris war der Einzige, der mitdachte und fix die Türe verschloss. Das Problem war jetzt nur, dass wir nun in kompletter Finsternis saßen.
»Moment, das haben wir gleich.« Ich konnte nur hören, wie Chris heftig in seiner Kleidung nach irgendetwas suchte. »Ahh! Da ist es!« Er zischte kurz und plötzlich wurde es Licht. Er hatte ein Streichholz angezündet.
»Wofür.. hast du Streichhölzer dabei?«, fragte Cosmo skeptisch.
»Naja… Man weiß ja nie, nicht?« Jetzt, wo wir wieder was sehen konnten, erkannte ich, dass wir uns in einer Art Anlage befanden. Der Raum war etwas größer – überall waren Rohre, alte Kisten und der Boden war nicht gerade sauber. Alles wirkte ziemlich verlassen und verrostet. Durch den Raum ging ein sehr dünner Fluss – ein sehr dünner, übelriechender Fluss. Chris ging darauf zu – wir hinterher. Wir mussten ihm folgen, weil er ja das Licht hielt.
»Mann, das stinkt wirklich übel nach Scheiße.«, meinte Cosmo.
»Das.. das ist Scheiße. Sehr alte Scheiße«, sagte Chris. Wie ein Weinkenner, der sofort den Jahrgang am Geruch erkennen konnte. Als Chris so das Streichholz über das Geländer hielt, konnte man die richtig schwappige, eklige, braune Brühe erkennen, die sich hier durchzog.
»Leute, ich denke wir sollten hier besser weg. Ich denke nicht, dass das gesund ist.«, meinte ich.
»Gute Idee.«, stimmte mir Cosmo zu.
»Oh oh…« Während wir uns umdrehten, lies Chris sein Streichholz aus Ungeschick fallen, was direkt in die Pampe fiel und das Gebräu eine lodernde Stichflamme nach oben gab und mit rasanter Geschwindigkeit sich den Fluss entlang verbreitete.
»RAUS HIER!«, rief ich, während wir zu dritt zum Ausgang sprinteten und ich in Eile die Türe aufriss. In dem Moment, in dem wir heraus sprangen, kam von hinten eine riesige Explosion, die uns noch einen kleinen Schub nach draußen gab.
Kapitel 4
Ich spürte die Hitzewelle hinter mir, dann knallte es laut. Ein kurzes Beben rundete die Explosion ab und mit einem fauchenden Geräusch schoss die Brühe in die Luft. Die Feuerwelle zog sich mitsamt der Luft wieder ins Innere der Kammer zurück, in der ich das Streichholz fallen ließ.
Wir rannten raus und sahen schon durch den Türspalt die ersten Tropfen fallen. Draußen angekommen hörten wir es prasseln. Ich blickte zurück und sah, wie aus dem Dach der alten Kläranlage ein nicht endenwollender Strahl aus Fäkalien gen Himmel in den tiefblauen Abendhimmel schoss. Am Ende des Strahls speiten Flammen empor, die durch die kühle Luft den Prozess anfachten und so mit einem lauten Fauchen weiter Jauche und Exkremente in die Luft schossen. Die Flammen flackerten schnell und hell. Es war ein schönes Bild.
Ich schaute rüber zum Weihnachtsmarkt und stellte fest, dass dort ein beträchtlicher Teil der Brühe niederregte.
»Oha, besser, wir verschwinden jetzt ganz schnell«, sagte Cosmo und wir schritten wieder in Richtung Industriegebiet.
Die Schritte hallten in der verlassenen Gasse laut. Von irgendwoher hörten wir Sirenen hallen. Sie schienen aber weiter weg zu sein.
Wir waren nun schon am Stadtrand angekommen. Zur linken waren ein paar verlassene Fabriken, rechts erstreckte sich ein Wald.
Ich blieb stehen. »Und nun?«, fragte ich, »was jetzt?«. Ich schaute in die Runde, aber keiner wusste so recht eine Antwort. Ich ja auch nicht.
Der Wind wehte leise, der Schnee wirbelte leise durch die Luft.
»Das isses«, sagte ich und zeigte auf eine Feueraxt, die in einer Halterung neben einer brüchigen Parkbank hing.
Ich schnappte mir die Axt und lief in den Wald. »Ja, nun warte doch mal«, sagte Jack und die beiden liefen mir hinterher. Zuweit konnte ich nicht reingehen, weil es schon zu dunkel war.
Zwischen all den Laubbäumen standen tatsächlich ein paar junge Tannen. »Juhuu«, rief ich, schulterte die Axt und ging auf die mittlere Tanne zu. »Ähm Chris, der passt nicht mal in den Garten«, sagte Jack. »Der soll auch nicht in den Garten, der soll ins Wohnzimmer«, antwortete ich, setzte die Axt in der Horizontalen an und hackte los.
»Wo ist eigentlich Steffen?«, hörte ich Cosmo fragen. Jack antwortete, aber durchs Holzsplittern hörte ich kaum was.
»Baum fällt!«, rief ich nach dem gefühlt hundertsten Schlag. Er knirschte beim Kippen und schlug dann krachend auf.
»Und wie kriegen wir den mit?«, fragte Cosmo. Ich warf Cosmo die Axt zu. »Wenn du willst, kannst du ihn ja etwas kürzen.«, sagte ich. Cosmo hackte noch mal den Stamm mittig ab und so zogen wir den Weihnachtsbaum an den Ästen langsam raus.
An der kopfsteingepflasterten Straße wieder angekommen nahmen wir den Stamm unter die Arme und schritten damit zum Hafen runter.
Die Straße war immer noch leer. In der Ferne war immer noch eine Rauchsäule auszumachen. Oha, hoffentlich hat keiner gesehen, wie wir die Kläranlage in die Luft gesprengt haben, dachte ich mir.
Wir bogen vor dem Zugang zum Weihnachtsmarkt links ab und gingen Richtung Hafen. Auf halbem Wege hielten wir dann inne.
»Hmm.. Was ist denn nun mit Steffen?«, fragte Jack. »Soll einer von uns auf dem Weihnachtsmarkt mal nach ihm suchen gehen?«, fragte Cosmo. »Gute Idee. Ich geh mal kurz nachsehen«, sagte ich und wir legten den doch ziemlich langen und schweren Tannenbaum auf den Boden ab.
»Ach, da seid ihr ja«, hörte ich eine bekannte Stimme. Wir schauten uns um.
Kapitel 5
»OH GOTT! EIN MONSTER« Cosmo sprang zurück.
»Was?! Nein! Ich bin’s! Steffen!« Ich konnte mein Lachen nicht halten. Steffen war von oben bis unten voller Scheiße. Man konnte ihn kaum erkennen.
»Steffen? Was ist passiert?«, fragte Chris ihn lachend. Wir mussten ja auch so tun, als wussten wir von nichts.
»Was soll passiert sein?«
»Du bist voller Scheiße, Mann. Wir haben dich überhaupt nicht erkannt!«, sagte ich zu ihm. Steffen blickte an sich hinab und schrie ganz erschrocken.
»WAS! Wie ist das denn passiert?! Also.. war das doch kein Schokokuchen eben? Ich wusste, der schmeckte komisch!«
»Wir sollten besser nach Hause.. Steffen du brauchst dringend eine Dusche.«, meinte Cosmo ganz anstrengend.
»Und.. fass mit deinen Händen bitte nicht den Baum an.«, fügte ich hinzu.
Cosmo, Chris und ich packten die Tanne ein letztes Mal an und machten uns auf den Weg zu unserem Boot.
»Leute, was macht ihr denn hier!« Eine bekannte Stimme kam uns beim Hafen entgegen. »Und wer ist der Neger?«
»Ül! Du hässliches Stück Scheiße! Schön dich zu sehen!«, rief ich mit Freude.
»Fang mir bloß nicht mit Scheiße an.«, entgegnete Steffen, dessen Gesicht immer noch einen sehr bräunlichen Farbton hatte.
»Ach! Es ist Steffen! Hallo!«
»Hey, Nylo.«
»Hallo Nylo! Hast du Simon Mätschmer gesehen?«, fragte Cosmo. Nylo sah ihn leicht angewidert an.
»Warum zum Teufel sollte ich ihn hier gesehen haben?! Weniger anstrengend sein und dann selbst umbringen, bitte.«
»Ül, pack mal lieber mit an, sonst schellert es!«, meinte Chris zu ihm.
»Ja, Ja. Hattest du nicht eh nen Weihnachtsbaum, Jack?«
»Ja… Aber der ist abgefackelt… Frag am besten nicht nach.«
»Und was war das überhaupt für eine fette Explosion in Heela?«
Cosmo hustete ganz auffällig.
»Keine Ahnung… Wir waren da im Wald und haben nen Baum gefällt. Cospsy.«, sagte Cosmo wieder ganz anstrengend.
»Richtig anstrengend, Cosmo.« Nylo musste wieder rumpöbeln.
Zu viert hievten wir nun den Baum ins Boot und stiegen zu fünft dazu.
Viele Worte fielen nicht auf der Bootsfahrt, da wir alle noch von dem Tag ziemlich geschafft waren. Bis auf Nylo vielleicht – aber der war sowieso eher angewidert von Steffens penetrantem Güllegestank.
Nach einer gefühlten halben Ewigkeit kamen wir dann auch am Strand von Silvercoast Island an.
»Ohh! Es sind Chris, Jack, Cosmo, Nylo und.. und…«
»Steffen. Hallo Max.«
»Oh Steffen. Hab dich gar nicht erkannt.. mit der ganzen.. Scheiße im Gesicht. Also ich hätte dazu ja ne Theorie, dass ihr ne Kläranlage gesprengt habt und Steffen dann die volle Ladung Scheiße erwischt hat! Aber.. das ist wohl doch zu abwägig.«
»Äh.. hehe.« Cosmo hustete wieder ganz auffällig, während Chris und ich besser versuchten, zu kaschieren, dass Max wirklich hinter die Geschichte kam.
»Als ob, Max. ALS OB. Steck dir deine Maxtheorien bitte in den Arsch und bring dich um.«
»Ohh Ül.«, sagte Chris.
»Morgen ist Weihnachten, sei mal freundlicher, oder ich schlag dich tot.«, fügte ich hinzu.
Vom weiten kam eine weitere Person rennend hinzu. Dem Pferdeschwanz zu urteilen konnte ich mir schon denken, wer es war.
»Was ist hier denn für ne Versammlung?«, Tessi stand mit verschränkten Armen am Steg neben Max.
»Tessi! Kommst grad recht. Trag mal bitte den Baum allein rein mit deinen starken Armen.« Nylo musste wieder jeden beleidigen, auf den er traf.
»Ül fick dich. Ich bin schon zuständig für das Weihnachtsessen! Und was machst du, du faules Stück Scheiße? Gleich gibts für dich gar nix zu fressen!«
»Ich.. hab hier wichtige Aufgaben, Tessi. Meine Kernkompetenz ist anderen Leuten die Luft wegzuatmen und außerdem muss ich noch für Unstimmung im Weihnachtsfest sorgen.«, sagte Ül scherzend.
»Ja gut, darin bist natürlich echt gut.« Tessi lachte.
»Leute, wollen wir alle bitte den Baum reintragen? Steffen du kannst direkt zu deinem Haus gehen und dir mal die Scheiße aus dem Gesicht kratzen.«
»Gute Idee. Und was essen.«, antwortete er und sprang gleich aus dem Boot hinaus und hinterließ eine dünne Spur von Jauche.
Kapitel 6
Anschließend saßen wir in Jacks Haus zusammen. Ich hatte mit Nylo aus dem Café einen Tisch hergeholt, da Jacks halb verkokelt war. Steffen war so freundlich, und hatte auch noch eine Kiste mit hausgemachten Apfelpunsch aus meinem Café hergeholt, nachdem er sich von seiner Kackekruste befreit hatte.
Wir schmückten den Baum noch mit dem Weihnachtskugeln aus meiner alten Kiste, die ich sonst für den Tannenbaum vor dem Café benutzte, und saßen danach in der Sitzecke beisammen.
»Was für ein schöner Baum«, sagte Tessi. »Ja, viel Lametta rettet manchmal doch so einiges«, antwortete ich.
Jack kam aus dem Keller wieder hoch und hatte noch Kekse und einen weihnachtlichen Kuchen dabei, der nach Zimt und Vanillie schmecken soll. Ich ging in die Küche, öffnete die Kiste und goss den Apfelpunsch in den Kochtopf.
Wir erzählten uns noch so einige Geschichten, die wir in letzter Zeit erlebten, und tranken dazu Apfelpunsch – ein Klassiker.
Ich schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Der Himmel war nun schon ganz schwarz, am Horizont konnte man den dunkelgrauen Nebel noch leicht ausmachen.
Der Wind hatte nachgelassen, der Schnee fiel nun langsam zu Boden.
Ich blickte nun wieder in die Runde. Ich hatte auf Durchzug geschaltet und hörte nun nur noch ein geselliges Gebrabbel. Es wurde viel gelacht.
Wie schön, mit guten Freunden zusammenzusitzen, dachte ich und starrte wieder nach draußen gen Himmel.
Hoffentlich werden wir im neuen Jahr wieder viel gemeinsam erleben.