Kapitel 1
Erster Dezember. Wenn der Weihnachtsstress nicht schon bereits früher eingesetzt hat, dann spätestens jetzt. Ich saß auf meinem bequem gepolsterten Bürostuhl im ersten Stock und blickte aus dem an der Seitenwand befindlichen Fenster. Der Winter war bereits völlig über den Kontinent Freeja eingebrochen. Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel und jedes Stück Gras, sowie alle Häuser welche ich sah gingen im Schnee völlig unter. Akustisch wurde die Ruhe, die ein solch dichter Schneefall normalerweise vermittelt, durch die verschiedensten Arten den Schnee zu bekämpfen durchbrochen. Zum Einen durch ungefähr zehn Leute die gleichzeitig Schnee schaufelten und zum Anderen durch das Piepen und den Motorenlärm der Schneeraupe welche das Rathaus des öfteren passierte. Trotzdem versank ich regelrecht in dieser optischen und akustischen Winterstimmung, was wohl auch daran liegen mag dass der Winter zu meinen Lieblingsjahreszeiten gehört. Plural deshalb, weil ich mich nach so ziemlich jeder anderen Jahreszeit sehne wenn mir die aktuelle aus dem Hals raushängt. Egal ob es sich dabei um die frostige Kälte des Winters oder die stickige Hitze des Sommers handelt. Freeja war dafür bekannt alle vier Jahreszeiten in einer gewissen Extreme zu durchlaufen.
Ruckartig wurde ich aus meinen Gedanken über den Winter und die Jahreszeiten an sich gerissen, als ein lautes hölzernes Klopfen den Raum durchdrang. „Ja?“, rief ich in einer Lautstärke die sicherstellte dass die Person an der anderen Seite der Tür mich hört. Die relativ große, alte Tür öffnete sich und Sarah, meine Sekretärin, trat herein. „Ich habe hier etwas für dich dass dich bestimmt freuen wird.“, sagte sie mit einem leichten Grinsen auf den Lippen als ich Blickkontakt mit ihr aufbaute. Sie ging über den alten Holzboden, auf dem sich ein rechteckiger weinrot-blauer Teppich befand, auf meinen Schreibtisch zu. In ihrer Hand hielt sie einen Zettel auf dem ich einige mit Füllfeder geschriebene Sätze sowie mit Buntstift gekritzelte Zeichnungen erkennen konnte. „Oje, das ist doch nicht etwa…“, sagte ich als ich meine Hand ausstreckte um den Zettel entgegenzunehmen. Sarah stellte sich neben mich um meine Reaktion abzuwarten während ich den Brief las.
„Lieber neuer Herr Bürgermeister,
wir würden uns sehr freuen wenn wir Sie zu unserem diesjährigen Weihnachtsfest in der New Andora Grundschule am 14. Dezember um 12:00 begrüßen dürfen. Für Unterhaltung und das leibliche Wohl ist gesorgt. Natürlich möchten wir Sie auch einladen eine etwa 5-minütige Rede über das vergangene Jahr und unsere Schule zu halten.
Wir bitte um kurze Rückmeldung!
Die Schüler und Lehrer der NAG“
Der Brief war zusätzlich mit unterschiedlicher weihnachtlicher Symbolik wie Sterne und Weihnachtsbäume verziert, welche, wie unschwer zu erkennen war, von den Schülern selbst gezeichnet wurden während der Text in einer schönen Schreibschrift, wahrscheinlich von der Direktorin, daherkam. Ich legte den Brief zur Seite und atmete kurz aus. „Sieht so aus als würde ich mich dieses Jahr nicht mehr davonschwindeln können, nicht wahr?“, sagte ich mit leichter Ironie und blickte zu Sarah. Es ist erst zwei Wochen her dass ich zum neuen Bürgermeister von New Andora gekürt wurde. Der Altbürgermeister und mein langjähriger Wegbegleiter Henry trat mit nunmehr 62 Jahren ab und wählte mich als seinen Nachfolger aus. Wie es dazu kam? Nun, eigentlich hatte ich nun schon seit über 10 Jahren ein ganz besonderes Verhältnis zu New Andora. Obwohl es nicht meine Heimatstadt war lebte ich seit der Zerstörung meiner ursprünglichen Heimat Suenoislet immer gut und mittlerweile auch gerne hier. Ein völlig unerwarteter und historisch einmaliger Vulkanausbruch sorgte damals dafür, dass das komplette Festland von Suenoislet mitsamt dem Großteil der Einwohner dem Erdboden gleichgemacht wurden. Darunter waren nicht nur fast alle meine Freunde, sondern auch meine Eltern. Wie durch ein Wunder haben meine Brüder Chris und Steffen es geschafft rechtzeitig von der Insel zu entkommen. Während Steffen sich auf einem der wenigen Schiffe befand die im letzten Moment von der von Lava überrannten Insel ablegten ist die Geschichte die Chris mir schon öfter erzählt hatte weit abenteuerlicher. Angeblich konnte er sich in einer Indiana Jones mäßigen Situation mit einem einfachen Ruderboot und einer vorteilhaften Meeresströmung selbst retten. Ob die Geschichte wirklich stimmt oder Chris durch den Schock über den Verlust unserer Heimat die Wahrheit etwas selektiver wahrgenommen hatte sei mal dahingestellt. Wie es meinen anderen beiden Brüdern, Flean und Devil erging ist bis heute leider ungeklärt. Immer wieder fanden wir in Atlantis vereinzelt Hinweise darüber, dass sie noch am Leben sein könnten, aber gefunden hatten wir sie nie.
Ich selbst habe leider, oder glücklicherweise keine solch heroische Geschichte über meine Flucht von der Insel zu berichten. Und zwar aus dem einfachen Grund dass ich mich zu dem Zeitpunkt des Ausbruchs in einem Jugendcamp in Freeja befand. Ich erfuhr damals relativ schnell von dem Vulkanausbruch, da Geschichten darüber in ganz Atlantis die Runde machten. Von einer Sekunde auf die andere stand ich ohne meine Heimat und, wie ich damals annahm, ohne meine Familie da. Völlig jeder Hoffnung beraubt saß ich abseits aller anderen Kinder in meinem Zelt, stülpte einen schwarzen Umhang über meinen Kopf und trauerte den ganzen Tag und die ganze Nacht. Henry, der damals eigentlich nur zufällig in unserem Jugendcamp war weil er in seiner Rolle als Bürgermeister sehen wollte wie das Projekt vorangeht, hörte über die Betreuerinnen von mir uns kam ohne zu zögern in mein Zelt. Er setzte sich auf den Boden gegenüber von mir und hörte mir ganz konzentriert zu als ich meine Hoffnungslosigkeit vor ihm ausbreitete. Nach einiger Zeit stand er auf und meinte ich solle ihm folgen. Wir gingen aus dem Zelt ein paar Meter in Richtung des Anhangs der sich neben unserem Camp befand. „Siehst du das kleine verlassene Holzhaus etwas westlich von der großen Maitland Villa?“, fragte er während er seinen Zeigefinger in Richtung des Dorfes ausstreckte, welches in der Ferne zu sehen war. „Du sollst nicht aufgrund deines unverschuldeten Verlustes deiner Lebensgrundlage beraubt werden. Ich biete dir folgendes an: Du kannst dein Leben hier in diesem bescheidenen Häuschen in New Andora neu starten. Wir pflegen eine gute Gemeinschaft in unserem kleinen Städtchen. Ich bin mir sicher, dass dich die Leute gut aufnehmen werden und dir jederzeit helfen wenn du etwas brauchst. Nimm dir die Ruhe die du jetzt brauchst und melde dich bei mir wenn ich dir irgendwie weiterhelfen kann.“ Und so kam es. Ich bezog das Haus und integrierte mich relativ zügig in meiner neuen Heimat. Henry selbst wurde für diese selbstlose Aktion zu einem Helden unter den Bürgern dieses bescheidenen Städtchens. Um meiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen engagierte ich mich in jeder meiner freien Minuten für die Gemeinde. Ich half immer dort wo gerade Not am Mann war, egal ob bei der Vorbereitung von Festen, bei der Verschönerung des Stadtbildes oder bei einfachen Verwaltungsaufgaben. Relativ schnell bekam ich eine Festanstellung im Gemeindeamt und konnte die Miete für das Haus auf eigene Kosten begleichen, was mein Engagement für New Andora jedoch nicht lindern sollte. Für Henry wurde ich über die Jahre zu einer Art rechter Hand. Ich fühlte mich in der Rolle ziemlich wohl, sodass mich die Botschaft die er mir vor fast genau einem Jahr überbrachte vollkommen unerwartet aus den Socken gehauen hatte. „Du willst WAS?“, rief ich mit völlig gemischten Emotionen förmlich aus mir heraus als Henry mir das Siegel in die Hand drückte. „Du bist zwar nicht der Kandidat der die längste politische Erfahrung mit sich bringt, aber mit deinem Einsatz für die Stadt schlägst du die anderen um Längen“, erklärte mir Henry während er in meinem damaligen Büro ununterbrochen von einer Wandseite zur anderen wanderte. „Ich wäre sehr stolz darauf dich meinen Nachfolger nennen zu dürfen.“ – Und schwupp, wurde ich zum designierten Bürgermeister von New Andora. Vor knapp zwei Wochen wurde ich angelobt und stehe gefühlt immer noch völlig am Anfang, gerade in Momenten wie diesen wo sich wichtige externe Termine anbahnen.
„Du schafft das schon. Die Kinder achten da sowieso nicht drauf wer da vorne steht und wirre Sätze von sich gibt. Und die Eltern, naja, die sind sowieso schon neugierig wie sich der neue Bürgermeister denn so schlägt.“, sagte Sarah mit einem leicht hämischen Grinsen auf ihren Lippen. Ich atmete aus während ich mit bereits jetzt leicht aufkeimender Nervosität auf den Brief starrte. „Nun denn, Zeit die erste richtige Rede zu verfassen.“, sagte ich mit einer etwas erzwungenen Aufbruchsstimmung. Sarah drehte sich um und verließ mit den Worten „Viel Erfolg!“ den Raum. Ich schnappte mir einen leeren weißen Zettel von meinem Papierstapel. Nach meiner Antrittsrede die ich jedoch in Zusammenarbeit mit Henry verfasste, war dies meine erste richtige Rede in der Funktion als Bürgermeister. Es war nun also vorbei mit dem Fäden im Hintergrund ziehen, ich musste aus meinem gemütlichen Büro zu den Menschen hinaus. Knappe fünf Minuten saß ich an meinem Schreibtisch, die Füllfeder in der rechte Hand. Mir wollte nichts einfallen, woraufhin ich mich von meinem Stuhl erhob und zum Seitenfenster ging. Es war bereits dunkel geworden. Nebst dem immer noch andauernden dichten Schneefall fiel mir diesmal noch etwas andere in die Augen. Ein seltsames, glockenförmiges, schwarzes Etwas verdeckte beinahe die gesamte linke Hälfte des Fensters. Ich senkte meinen Kopf näher zum Fenster. „Was ist das?“, murmelte ich ganz leise vor mich hin. Es musste vom Dach kommen. Wurde durch eine Dachlawine etwa eine Plane oder ähnliches vom Dach runterbefördert? Ich öffnete das Fenster. Der Gegenstand war tiefschwarz, selbst das Licht welches von meinem Büro nach außen drang reflektierte nicht in dem Objekt. Plötzlich merkte ich was für ein starker Wind draußen weht, da sofort eine eiskalte Brise hereindrang und meine Haare nach hinten fegte. Ich wurde von dem Wind völlig überrascht, da sich das schwarze Etwas kein bisschen im Wind bewegte. War es also keine Plane? Was denn dann? Ich streckte meine rechte Hand dem eiskalten Wind entgegen um den Gegenstand zu ertasten. Es fühlte sich so an als würde ich in ein schwarzes Loch greifen. Trotz der voll ausgestreckten Hand machte ich keine Berührung. Ich ging einen Schritt näher. Meine Hand vernahm auf einmal eine seltsames Gefühl von Wärme. Was zum Teufel hing da vor meinem Fenster? Abrupt hörte der starke Wind auf und ich hielt inne. Das eiskalte Gefühl des Windes wurde nun völlig von der Wärme ersetzt. Es war ein pulsierendes Gefühl von Wärme. Ich schreckte zurück und zog meine Hand ein. Langsam adaptierten sich meine Augen an die Dunkelheit die draußen vorherrschte. In dem Moment konnte ich die Quelle der Wärme wahrnehmen. Ein immer wiederkehrender Luftstoß war vor dem schwarzen Etwas zu sehen. Genau bei meinem Fenster erlosch dieser. Ich hielt die Luft an und wusste nicht was ich machen sollte. War das etwa ein Tier? Ich blieb ungefähr 10 Sekunden lang stehen und musterte in einer absolut starren Haltung die Atemluft die wieder und wieder zu sehen war. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und ging schließlich einen Schritt näher. Stark zitternd bewegte ich meine Hand weiter aus dem Fenster. Das Gefühl der pulsierenden Wärme war wieder da. Ich streckte die Hand noch weiter aus. Für einen kurzen Moment ertastete ich die warme Oberfläche des vermeintlichen Tieres. Ruckartig schreckte das Tier zurück. Plötzlich ertönte ein lautes, langgezogenes „Nein!“ in einer hohen Kreischstimme. Ich erschrak so sehr dass ich blitzschnell meine Hand, mitsamt meinem restlichen Körper nach hinten bewegte. Aufgrund der unkontrollierten Bewegung fiel ich zu Boden. Es war eine Person, die völlig starr vor meinem Fenster stand und mich anstarrte! Die warme Oberfläche die ich erfühlt hatte war eine menschliches Gesicht. Mit dem Rücken am Boden liegend drückte ich mich prompt mit meinen Händen immer weiter weg vom Fenster, bis ich in der Mitte des Raumes angelangt war. Mein Blick wich nicht vom Fenster, welches ich aber aufgrund des Winkels nicht mehr so gut erkennen konnte. Ich hatte Angst davor, dass auf einmal Hände am Sims auftauchen würden. Regungslos blieb ich in der Mitte stehen, atmete schwer und blinzelte kaum. Kein Mucks war zu hören und der Fenstersims blieb leer. Nach einer halben Minute erhob ich langsam meine zittrigen Beinen um einen besseren Blick auf das Fenster zu bekommen. Es war weg. Die Person war nicht mehr zu sehen. Ich schlich mich näher an das Fenster heran und versuchte dabei über die Ecken der Außenwand zu spähen. Nichts. Als das Fenster nur noch eine Armlänge entfernt war, griff ich sofort zur Fensterklinke und schloss das Fenster so schnell es nur ging. Ich traute mich nicht hinauszuschauen. Ich zog beide Vorhänge zu und ging rückwärts auf meinen Schreibtisch zu, während ich weiter auf die eintönigen, grauen Vorhänge blickte. Jegliche Versuche mich mit dem Schreiben meiner Rede abzulenken waren für den restlichen Abend komplett umsonst. Mein Blick fiel alle paar Sekunden auf das Fenster. Meine Gedanken wurden so stark von Angstzuständen verdrängt, dass ich erst jetzt begann mir Fragen zu stellen. Wie ist es möglich, dass eine Person in den ersten Stock vor mein Fenster klettert? Wer war das? Wieso war diese Person komplett in schwarze Farbe gehüllt? Wieso reflektierte kein Licht? Wieso regte sie sich keinen Millimeter? Diese Fragen geisterten mir den ganzen restlichen Tag durch den Kopf. Geschlafen habe ich in dieser Nacht sowieso nicht.
Kapitel 2
„Das klingt jetzt wieder nach einer typischen Story von Anstrengenheitscosmo“, sagte Jack, sprach Jack in den Telefonhörer und stieß einen lauten Lacher aus. Es waren fast zwei Wochen vergangen als ich diesen gruseligen Vorfall im Rathaus hatte. Wobei, mittlerweile bin ich mir schon fast sicher dass ich einfach nur taggeträumt hatte. In den letzten Wochen habe ich es mit dem gesunden Schlafrhythmus nämlich nicht so genau genommen, da ich einen guten ersten Eindruck als Neubürgermeister machen wollte. Dass ich dabei aber einigen Kollegen im Rathaus von komischen schwarzen Gestalten vor meinem Fenster erzählt hatte, hat wohl nicht gerade positiv dazu beigetragen. Der Vorfall beschäftigte mich aber immer wieder und ich wollte mein Erlebnis einfach mal loswerden. So auch bei Jack, der mich gerade angerufen hatte um mich zur diesjährigen Weihnachtsfeier der Jasra Familie einzuladen. „Haha ja, da hast du wahrscheinlich Recht.“, entgegnete ich ihm und sah unterbewusst wieder an genau das Fenster. In diesem Moment beschloss ich meine Gedanken endlich von diesem ständigen Grübeln zu befreien, welches mich immer wieder beim Arbeiten behinderte. „Ich glaube ich hab einfach schlecht geschlafen.“, sprach ich in den Hörern und gleichzeitig zu mir selbst. „Ja? Vielleicht war es auch einfach nur ein großer Vogel oder irgendein Stück Müll welches durch die Luft flog“, antwortete Jack. „Ich glaube jedenfalls nicht, dass irgendjemand so anstrengend ist, dass er in den ersten Stock eines Rathauses klettert nur um mal kurz durch das Fenster reinzuluschern.“ Während Jack redete ging ich mit dem Telefonkabel zum Fenster und zog den Vorhang wieder auf. Ich hatte ihn seit dem Vorfall aus Angst nicht mehr bewegt. Natürlich war dahinter bis auf die mittlerweile noch schneebedecktere Landschaft nichts nennenswertes zu sehen. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und grinste. „Oder das, ja. Egal, genug davon. Zu Weihnachten kannst du auf jeden Fall mit mir rechnen. Denkst du ich lasse mir entgehen wie Chris nach dem 10ten Bier wieder die Hosen runterlässt und auf das Dach vom Nebenhaus ka…“. „Oh Gott, erinnere mich bitte nicht daran.“, unterbrach mich Jack. „Der Besitzer von dem Haus wirft mir immer noch einen Todesblick zu wenn ich ihm mal zufällig über den Weg laufe. Ich musste so laut lachen dass ich mir eine Träne aus den Augen wischen musste während ich mich wieder auf meinen Bürostuhl setzte. Nach einem kurzen Moment setzte ich wieder zum Reden an: „Alles klar, ich muss dann auch. Heute Mittag ist die Schulweihnachtsfeier vom New Andora Gymnasium und ich musste dafür eine Rede schreiben. Nachdem ich die aber aufgrund meiner fortgeschrittenen Prokrastination erst gestern fertiggestellt hatte, muss ich den Text zu Hause noch etwa einstudieren. Wir sehen uns dann zu Weihnachten, ja?“. Jack antwortete prompt: „Alles klar Cosmo, bis bald und vergiss nie das Motto!“. Ich legte den Telefonhörer zurück auf den Apparat.
Mein Blick wandte sich auf den mittlerweile vollgeschrieben Papierzettel der die Rede für die Weihnachtsfeier enthielt. Nach einigen Revisionen war ich mittlerweile ziemlich zufrieden mit der Rede. Ich packte meine Jacke, die ich um um die Rückenlehne meines Stuhls gelegt hatte, zog die darin eingesteckte Wintermütze über meinen Kopf und nahm den Zettel an mich. Danach öffnete ich die große Tür am Ende meines Büros und betrat den Flur des ersten Stockes. Die Sonne blendete sehr stark aus dem Fenster am anderen Ende des Flurs herein. Überrascht zog ich meinen linken Jackenärmel etwas hoch und blickte auf meine Armbandhuhr. Es war bereits 10:00 Uhr, vor lauter Quasseln hatte ich die Zeit völlig übersehen. Ich eilte die alte Holztreppe nach unten und kam im Eingangsbereich des Rathauses an. Sarah saß am Schreibtisch hinter der Theke und blickte zu mir rüber. „Na, alles klar? Ich war mir gerade nicht sicher ob das vorhin ein Lacher oder Todesschrei war.“, sagte sie. Ich senkte mein Schritttempo und antwortete: „Vorhin war’s noch ein Lacher, jetzt nachdem ich gesehen habe wie spät es ist kann es aber auch gut sein dass ich unbewusst noch einen Schrei ausgestoßen habe. Aber apropos, wenn du dir nicht sicher bist ob ich mich nicht vielleicht gerade mit einem Todesschrei von dieser Welt verabschiede, wieso stürmst du dann nicht sofort hoch und rettest mich?“ Sie sah mich ganz verdutz an und sagte: „Also als ich das letzte Mal meinen Dienstvertrag gelesen habe stand da noch nichts von Leben retten drinnen. Ich bin nur hier um die Zetteln zu sortieren.“ Ich hob eine Augenbraue und schüttelte leicht den Kopf. „Darüber müssen wir heute am Nachmittag unbedingt noch reden. Ich muss jetzt jedenfalls los zum Gymnasium. Wenn ich zu spät komme, werden mich die Kinder noch mit Radiergummis bewerfen weil sie noch länger warten müssen bis sie heim dürfen und Nitendo spielen können.“ Sarah sah mich überrascht an und antwortete: „Oh stimmt, die ist ja heute. Na dann viel Erfolg, ich seh ja dann am Nachmittag ob du mit Farbklecksen beschmiert zurückkommst oder nicht.“ Ich öffnete die Eingangstür, hob dabei meine linke Hand zu einer Abschiedsgeste und ging nach draußen.
Ich wurde von der kalten Winterluft begrüßt, welche zu dieser Zeit des Tages jedoch recht angenehm war, da die Sonne vom wolkenlosen Himmel blendete. Ganz New Andora war von Schnee bedeckt. Über all den Gärten die vor dem Rathaus zu sehen waren, lag eine 20cm dicke Schneeschicht, die Straßen und Gehwege waren dank den Schneeraupen vom Schnee jedoch befreit. Der Gehweg vom Straßenrand zum Eingang des Rathauses, über den ich gerade ging, war von all den Fußspuren bereits flachgetrampelt. Ich schlitterte am Gehweg schnellen Schrittes entlang, um die 1,5km bis zu meinem Haus möglichst rasch zurückzulegen. Dabei passierte ich viele der recht altmodischen Gebäude. New Andora ist im Verhältnis zu den größeren Städten von Atlantis zwar höchstens eine Stadt mittlerer Größe, auf dem Kontinent Freeja ist sie aber mit Abstand die größte Stadt. Sowohl das Rathaus, als auch mein Haus befinden sich ziemlich im Zentrum der Stadt, welches vor ungefähr 500 Jahren von den ersten Siedlern Freejas erbaut wurde. In ganz Freeja bildeten sich noch weitere kleinere Ballungszentren, das Gebiet um New Andora hatte sich aber schnell als gesellschaftlicher Mittelpunkt des Kontinents herauskristallisiert. Besonders seit der Eröffnung des Flughafens an den Stadtgrenzen erfährt New Andora einen kräftigen Zuwachs an Unternehmen und Bewohnern mit einer anhaltenden Tendenz nach oben. Dies ist der Grund warum sich die Stadtgrenzen immer weiter ausdehnen und neue deutlich moderner gestaltete Bezirke am Rande der Stadt aus dem Boden schießen. Der alte Stadtkern in dem ich zu Hause bin wird seit einigen Jahren daher oft als Old Andora bezeichnet und wandelt sich immer mehr zu einer Art historischen Altstadt. Am Weg nach Hause begegnete ich sogar einigen Touristen welche sich vor der Statue des Großen Flux Bastians, dem ersten Siedler Freejas und gleichzeitig Wahrzeichen des Kontinents, fotografieren ließen. Außerdem kam ich am historischen Kino vorbei, welches als erstes Kino weltweit einen Tonfilm ausgestrahlt hatte.
Nach knapp 20 Minuten kam ich endlich zu Hause an. Ich zückte meinen Schlüssel aus der Hosentasche und sperrte die Wohnungstür sogleich auf. Eine angenehme Wärme drang aus meinem Haus, einer kleinen bescheidenen aus Holz bestehenden Bungalowwohnung. Innen war die Wohnung recht minimalistisch ausgestaltet. Der Vorraum war ein recht breiter Raum, in dem an der Wand ein langes Regal stand. Darauf befanden sich einige Bilderrahmen mit unterschiedlichen Bildern mit meiner Familie, Freunden und mir, am prominentesten standen jedoch zwei Fotos in der Mitte. Auf einem Bild waren Jack, Chris, Steffen und ich zu sehen welches uns in einem Caféhaus in Heela zeigt. Kurz davor hatten wir Steffen aus den Untiefen der Kanalisation in Heela befreit, wo er von irgendwelchen Gangstern entführt wurde. Ein anderes Bild zeigt Baigh, einen alten Kindheitsfreund, und mich auf dem Berghang hinter meinem Haus. Einige Jasras hatten damals für diesen Überraschungsgast gesorgt als sie mich besuchen kamen. Ich hing meine Jacke und Mütze auf einen der drei freien Haken welche gegenüber des Regals standen. Meine Schuhe packte ich neben das andere Schuhpaar, welches ebenfalls gegenüber des Regals stand. Ich zog die Ärmel meines schwarzblau karierten Hemdes hoch und betrat den Aufenthaltsraum dessen Tür neben dem Regal war. Dies war auch gleichzeitig der größte Raum meines Hauses. An der linken Seite befand sich der Essensbereich bestehend aus einer gepolsterten Eckbank und vier weiteren Stühlen. Die rechte Seite bestand aus einem Sofaeck, wo sich meine graue Wohnlandschaft, ein Glastisch und ein Stapel mit Magazinen und Büchern befand. In der Mitte war der Durchgang in den Flur welcher wiederum drei Türen enthielt: Eine führte in das Schlafzimmer, die Zweite in eine Abstellkammer und die Dritte in den Gästeraum. In der gegenüberliegenden Ecke des Aufenthaltsraums war eine in die Wand gebaute Küche zu sehen, auf der anderen Seite standen einige Kästen mit Alltagsgegenständen und einer Tür mit der man in das Badezimmer gelangte. Ich warf mich mitsamt dem Zettel auf die Wohnlandschaft und überflog den Text einige Male. Zwischendurch stand ich auf, ging in den Küchenbereich hinüber und kochte mir grünen Tee.
Mit dem subtilen Piepen der Wanduhr, welche mir ankündigte dass es 11:00 Uhr ist, hüpfte ich schließlich auf und ging in das Schlafzimmer um mich für die Veranstaltung passend zu kleiden. Ich ersetzte mein farbiges Hemd mit einem Weißen, zog mir Krawatte und Anzug an und ging zurück in den Aufenthaltsraum um mir den Zettel mit meiner Rede zu schnappen. Nachdem ich auch meine Jacke und Schuhe wieder angezogen hatte, verließ ich mein Haus und brach in Richtung Schule auf. Am Weg murmelte ich noch Teile der Rede vor mich hin um später möglichst textsicher zu sein. Nach ungefähr 15 Minuten Fußmarsch war ich schließlich angekommen. Das zweistöckige Schulgebäude war, egal wohin man schaute, bereits festlich geschmückt. Auf beinahe jedem Fenster klebten Malereien der Kinder, um das Eingangstor herum wurde eine bernsteinfarbene Lichterkette gelegt und nebst dem Eingangstor war ein ungefähr drei Meter großer, üppig geschmückter Weihnachtsbaum zu sehen. Es tummelten sich bereits um die 50 Personen im Vorgarten der Schule, ein Großteil davon Eltern welche auf den Beginn der Veranstaltung warteten. Immer wieder sah man Schüler aus dem Schulgebäude zu ihren Eltern herauslaufen, ein paar kurze Worte verlieren, und dann wieder panisch zurück hineinstürmen. Die letzten Vorbereitungen waren scheinbar noch im vollen Gange. Ich ging an den Eltern vorbei, blickte kurz hinüber und rief gezwungenermaßen „Guten Tag“. Dass ich jetzt halbfremde Menschen begrüßen muss um sicherzustellen dass am nächsten Tag nicht Gesprächsthema Nummer 1 ist wie unfreundlich und abgehoben der neue Bürgermeister doch sei, habe ich wohl nicht wirklich am Schirm gehabt als ich diesen Job angenommen hatte. „Naja, da werd ich schon noch reinwachsen .“, dachte ich mir beim Vorbeigehen. Ich betrat das Schulgebäude und ging über den sehr hoch gebauten Altbaugang zum Büro des Direktors. Die Tür stand offen, ich klopfte zweimal gegen den Türrahmen und ging langsam hinein.
„Ah, Cosmo! Schon hier?“, sagte der Direktor der Schule, Walt. Ich kannte ihn bereits durch diverse Veranstaltungen in den letzten Jahren und weil er gut mit Henry befreundet war.
„Nee, der fällt grad nen‘ Baum. Sag mal, wo ist denn jetzt eigentlich dieses Essen welches mir in der Einladung versprochen wurde?“ Ich versuchte meine immer größer werdende Nervosität zu überspielen.
„Das Buffet musst du dir erst verdienen.“ Walt musterte mich ab. Sein Blick blieb auf meiner rechten Hand hängen. „Was ist das denn? Sag bloß du brauchst einen Spickzettel für deine Rede? Die Kinder mussten auch all ihre Geschichten für heute auswendig lernen.“
„Ja genau, hämmert nur unnützes Wissen in ihre Köpfe rein. Bei der nächsten FREEJSA-Studie schneiden wir dann noch schlechter ab weil keiner mehr sinnerfassend lesen kann.“, sagte ich mit ironischem Unterton.
„Ach, jetzt wart mal ab, es hat sich schon gelohnt dass die ein paar Zeilen Text auswendig lernen. Ich habe für dieses Jahr nämlich eine ziemlich interessante alte Legende von Freeja ausgegraben. Die passt 1A zu Weihnachten und die Kinder waren ganz vereinnahmt als sie diese während der Vorbereitungszeit geübt haben. So hab ich die noch nie erlebt…“, antwortete Walt.
„Ich hoffe, das ist nicht wieder diese Geschichte von der Anstrengenden Reise des Großen Flux Bastians die ihr vor zwei Jahren aufgeführt habt. Da sind die Leute reihenweise eingepennt vor lauter Langeweile.“, erklärte ich. Walt lachte und schüttelte den Kopf. Wir führten den Smalltalk noch ein paar Minuten fort bis wir schließlich gemeinsam in die Aula der Schule gingen, wo ein Großteil der Eltern und Schüler bereits Platz genommen hatte. Ich setzte mich in die Sitzreihe seitlich von der Bühne hin, wo sich bereits alle Personen befanden die an der Veranstaltung direkt involviert waren. Mein Blick wechselte permanent zwischen den sich stetig füllenden Bänken vor der Bühne und dem Zettel mit der Rede in meiner Hand. Nach einigen Minuten trat Henry schließlich aus dem beigen Vorhang der sich auf der Bühne befand hervor und die aufgeheiterte Stimmung im Saal legte sich. Henry hielt eine ganz klassische Eröffnungsrede in welcher er den Lehrern, Schülern und Eltern für das vergangene Jahr dankte und ihnen eine schöne Weihnachtszeit wünschte. Auf einmal blickte er in meine Richtung und erzählte: „Heute feiern wir auch noch eine weitere Premiere. Zum ersten Mal dürfen wir unseren neuen Bürgermeister, Herrn Cosmo Jasra, bei uns begrüßen! Cosmo, ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit und eine exzellente erste Rede die du uns gleich präsentieren wirst.“ Er setzte ab und klatschte. Auch das Publikum begann zu klatschen und ich nickte sowohl ihm als auch dem Publikum dankend zu. „Oje, jetzt werden hier auch noch große Erwartungen geschürt.“, dachte ich mir und setzte zum Aufstehen an um mich zur Bühne begeben. „Aber!“, rief Henry plötzlich und streckte seinen rechten Zeigefinger in die Höhe. „Zuerst möchten wir dich noch mit einer kleinen Überraschung offiziell bei uns in der Schule willkommen heißen.“ Sein Blick wandte sich auf eine Gruppe von drei Schülern die bereits an der Seitentreppe zur Bühne standen. Sie gingen langsam die Bühne hoch und stellten sich nebeneinander mittig hin. Es waren zwei Mädchen und ein Junge, der einen seltsamen grauen Umhang trug, der mich an die Kleidung von schwarzen Magiern erinnerte. Das Licht im Saal wurde abgedunkelt und ein auf die drei Kinder ausgerichtete Scheinwerfer ging an. Das links außenstehende Mädchen trat einen Schritt hervor und begann zu erzählen.
„Der Schatten Freejas. Eine von vielen Legenden über unseren Kontinent, und doch eine ganz besondere. Wir reisen 100 Jahre in die Vergangenheit, in das Esszimmer einer glücklichen Kleinfamilie. Es war Anfang Dezember. Mit großen Kulleraugen blickte der 5 jährige Sohn auf seinen Vater, der aus einem Buch las. Er erzählte die Geschichte vom Weihnachtsfest, von Rentieren, dem Weihnachtsmann und von wunderschönen Schneelandschaften. Am meisten fasziniert war der Junge jedoch als es um den Weihnachtsbaum ging. Der Vater zählte den gesamten Weihnachtsbaumschmuck auf: Lichterketten, Gebäck, Kerzen, Schleifen und dem großen Stern der an der Spitze des Baumes platziert wird. Der Junge sprang auf und jubelte enthusiastisch. Er wolle unbedingt einen solchen Weihnachtsbaum, mit all den verschiedenen Lichtern und den Süßigkeiten. Sein Vater legte das Buch zur Seite und nahm seinen Sohn in den Arm. „Ich verspreche dir, mein Junge, wir werden dieses Jahr den schönsten Weihnachtsbaum in unserem Garten stehen haben den du je gesehen hast.“ Sofort schnappte sich der Junge einen Zettel und zeichnete einen Weihnachtsbaum, mit all den Details die er sich wünschte. Sein Vater beobachtete ihn gespannt.“
Das Kind trat wieder zurück. Ich hörte der Geschichte gespannt zu, da ich sie selbst noch gar nicht kannte. Eigentlich hatten wir in der Schule all die wichtigen Legenden von Freeja durchgenommen, aber diese sagt mir gar nichts. Das Mädchen in der Mitte trat hervor. „Als der Junge den Baum fertig gezeichnet hatte, nahm der Vater den Zettel an sich und zeichnete 24 gleichmäßige Quadrate unter den Baum. „Ab heute darfst du jeden Tag eines der Kästchen ausmalen. Wenn sie alle ausgemalt sind, dann ist es soweit. Dann stellt dir der Weihnachtsmann genau diesen wunderschönen Weihnachtsbaum in den Garten vor deinem Fenster.“ Die Tage vergingen, die ausgemalten Kästchen wurden immer mehr, die Aufregung des Jungen stieg unaufhörlich. Es waren bereits 23 Tage vergangen, nur noch ein einziges Kästchen war unberührt. Der Junge legte sich früh schlafen um den Weihnachtsbaum am frühen Morgen bereits bestaunen zu können. Seine Eltern waren indes an der intensiven Vorbereitung. Sie stellten eine Tanne in den Garten, sodass sie vom Kinderzimmer aus gut sichtbar war. Sie hängten all die Weihnachtsdekoration auf den Baum, welche sie ihrem Kind versprochen hatten. Während sie sich vom Stamm des Baumes zur Spitze hocharbeiteten fiel ihnen jedoch etwas auf: Sie hatten den Stern vergessen. Beide eilten zurück zum Weihnachtsmarkt in der nahegelegenen Stadt New Andora um nach einem Stern zu suchen.“. Auch das zweite Mädchen trat nun zurück. Das Scheinwerferlicht wurde nun abgedunkelt und der rechts außenstehende Junge mit dem grauen Umhang trat hervor. Er schwieg für ein paar Sekunden und fing dann an zu erzählen. Im ganzen Saal war es mittlerweile mucksmäuschenstill geworden.
„Das Sonnenlicht vom Morgen strahlte bereits vom Horizont in mein Zimmer herein. Der Tag war gekommen. Ohne zu zögern nahm ich den Zettel von meinem Nachttisch und malte das 24ste Kästchen aus. Endlich war es soweit, alle Kästchen waren ausgemalt, heute ist der Tag an dem ich den Weihnachtsbaum bekomme. Ich legte die Decke zur Seite und stand auf. Ich ging zum Fenster und war überrascht und erfreut als ich den Weihnachtsbaum im Garten sah. Er war wunderschön geschmückt, aber er leuchtete nicht. „Naja, wahrscheinlich ist es einfach noch zu hell draußen und er leuchtet erst in der Nacht.“, dachte ich mir und ging vom Fenster weg. Ich ging von meinem Zimmer aus in das Esszimmer. „Mutter? Vater?“, rief ich. Keine Antwort. Sie waren wohl einkaufen oder spazieren. Ich setze mich auf meinen Platz am Tisch und wartete bis sie wieder zurück kamen. Immerhin musste ich ihnen von dem Weihnachtsbaum erzählen der in unserem Garten steht. Die Zeit verging. Eine Stunde, zwei Stunden, vier Stunden. Mir wurde immer kälter, da niemand zu Hause war der den Ofen einheizen konnte. Wo waren meine Eltern? Ich redete mir ein dass sie wahrscheinlich einfach nur dem Weihnachtsmann helfen mussten und legte mich zurück in mein Bett wo es wärmer war. Immer wieder stand ich auf und blickte auf den Weihnachtsbaum. Die Stunden vergingen weiter, es wurde langsam dunkler. Die Sorge um meine Eltern tröstete ich damit, dass der Weihnachtsbaum ja bald leuchten würde weil es dunkel wird. Doch es wurde nicht nur immer dunkler, sondern auch immer kälter. Das einzige was sich nicht änderte war das Fehlen meiner Eltern und das fehlende Licht vom Weihnachtsbaum. Ich bekam immer mehr Angst, weil es langsam so dunkel war dass ich nichts mehr sah. Ich ging mit meiner schwarzen Decke zum Fenster, zog sie mir wie einen Umhang um den Kopf und blickte starr auf den Weihnachtsbaum vor dem Fenster, in der Hoffnung dass er endlich aufleuchten würde. Es war bereits so kalt, dass ich meinen warmen Atem vor meinem Gesicht sehen konnte. Die Zeit verging weiter. Irgendwann war es so dunkel, dass ich nichtmal mehr mein Gesicht in der Reflexion vom Fenster erkennen konnte.“.
Ich hörte ganz gebannt zu, bis mir plötzlich ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Die Bilder von Anfang Dezember schossen mir wie ein Geistesblitz wieder durch den Kopf: Dunkelheit, Fenster, schwarzer Umhang, kein Gesicht, warmer Atem. Von einer Sekunde auf die andere wurde mir schwarz vor den Augen. Es war der Junge aus der Geschichte den ich am 1. Dezember am Fenster von meinem Büro gesehen hatte! Unbewusst ließ den Zettel mit meiner Rede fallen und lief kreidebleich an. Walt, der mittlerweile neben mir Platz genommen hatte sah mich an während der Junge auf der Bühne immer noch weitererzählte. „Alles in Ordnung?“, fragte er mich als er seine Hand auf meine Schulter legte. Meine Gedanken waren aber mittlerweile ganz wo anders. Was hat diese Geschichte mit mir zu tun? Wie ist das alles möglich? Völlig ferngesteuert sprang ich auf und blickte mich um bis ich den Ausgang in der Dunkelheit des Saales erkennen konnte. „Ich muss weg.“, wimmerte ich zu Walt und lief sogleich in Richtung des Ausgangs. Alles um mich herum hatte ich in diesem Moment vergessen, das einzige was in meinem Kopf herumschwirrte waren diese Fragen.
Kapitel 3
Dreiundzwanzigster Dezember. Ich stampfe durch die tiefen Schneemassen hoch auf einen Hügel nördlich von New Andora. Es war bereits 16:00 Uhr, der noch verbliebene Sonnenschein verschwand von Minute zu Minute und wurde mit der beginnenden Dunkelheit der Nacht ersetzt. Ich atmete schwer aus und ein, da mich jeder einzelne Schritt in dem knietiefen Schnee Kraft kostete. Mein Körper begann langsam zu zittern. Das lag aber nicht nur an der -10°C kalten Luft selbst, sondern an meiner Jeans die bereits durchnässt vom Schnee war. Vor allem aber rutschte immer wieder Schnee in meine Stiefel hinein, bis hinunter zur Fußsohle. „Was war das denn wieder für eine dumme Idee?“, flüsterte ich genervt zu mir selbst. Es ist schon Jahre her dass ich diesen Hügel bestiegen habe und damals kam es mir deutlich einfacher vor, was wohl daran liegt dass entweder die Schneehöhe damals niedriger war oder ich einfach mehr Ausdauer hatte. Egal, jetzt ist es auch schon zu spät um umzukehren.
Wie ich hier her komme? Sollte mich jemand fragen, würde ich von Neugierde sprechen, aber primär sind es die schlaflosen Nächte die den Ausschlag gegeben haben. Der 14. Dezember war der Auslöser für das ganze Chaos welches die letzte Woche meine Gedanken permanent durcheinander gewürfelt hatte. Während ich am Vormittag beim Telefonat mit Jack noch gedanklich mit seltsamen schwarzen Gestalten abgeschlossen hatte, lief ich Nachmittags in der Schule völlig unwissend in die wahrhaftige Schaustellung der Gestalt die ich Anfang Dezember vor meinem Fenster gesehen hatte. Der anfängliche Schock hatte sich zwar etwas gelegt, aber die Fragezeichen in meinem Gehirn haben sich nur weiter vermehrt. Und ich war enttäuscht von mir selbst, da ich meinen ersten wichtigen Auftritt als Bürgermeister wegen einer dumme Legende verbockt hatte. Nachdem ich aus dem Veranstaltungssaal gestürmt bin, brauchte ich ein paar Minuten um mich zu sammeln und um meine Gedanken zu sortieren. Schließlich lief Walt, der Direktor, um die Ecke und sah mich am Boden sitzen. „Da bist du! Was ist passiert?“, fragte er mich als er zu mir rüber lief. Er ging in die Knie und musterte mich genau ab. „Ich… weiß es nicht genau. Ich glaube ich hatte einen kurzen Schwächeanfall. Diese Geschichte vom Schatten Freejas, woher hast…“, antwortete ich ihm und brach mitten im Satz ab als ich den Zettel in seiner Hand bemerkte. Es war meine Rede, die ich mittlerweile völlig vergessen habe und beim Herauslaufen fallen gelassen hatte. Ich schreckte kurz auf und meine wirren Gedanken kamen auf einmal zu einem klaren Entschluss: Ein solches Blackout darf mir nicht nochmal passieren. Ich weiß dass irgendetwas hinter der Legende steckt und ich werde noch vor Weihnachten aufklären was es ist. Aber jetzt muss ich erstmal verlorenen Boden wieder gutmachen. Ich streckte meinen rechten Arm aus und griff nach dem Zettel. „Nein, das kann warten. Zeit für den wichtigen Teil.“ Danach stand ich auf und ging mit Walt zurück in den Saal. Eine weitere Schülergruppe ist bereits für mich eingesprungen und hat ihren Auftritt vorgezogen. Als die Gruppe fertig war betrat ich die Bühne, entschuldigte mich für die kurze Unterbrechung und hielt meine Rede. Glücklicherweise kam sie sowohl bei den Schülern, als auch bei den Eltern gut an. „Puh, gerade nochmal die Kurve gekratzt…“, dachte ich mir als ich anschließend unter Applaus die Bühne verlassen hatte. Es folgten noch vier weitere kleinere Programmpunkte, danach wurde die Veranstaltung offiziell beendet. Sofort danach gab ich Walt ein Handzeichen und ging mit ihm zur Seite des Saals, während sich nach und nach alle Eltern und Schüler nach draußen begaben. Ich sah mich kurz um um sicherzustellen dass niemand in der Nähe war der uns hören konnte und sagte dann zu Walt: „Ich weiß, das klingt jetzt ziemlich blöd, aber ich glaube dass ich vor ein paar Wochen den Jungen aus der Legende vor meinem Fenster im Büro gesehen habe.“ Walt zog seine linke Augenbraue hoch und sah mich misstrauisch an. Er antwortete: „Der Schatten Freejas? Das ist eine uralte Legende, ich glaube da hat dir jemand einen Streich gespielt.“ Ich schüttelte den Kopf: „Nein, die Situation war war zu akkurat. Das fehlende Gesicht, der warme Atem… Außerdem war das im ersten Stock, kein Mensch würde da so einfach hochklettern nur um mir einen Streich zu spielen. Egal, was ich dich fragen wollte war eigentlich nur, ob du mir das Buch mit der Legende leihen kannst. Ich würde da gern mal weiter nachforschen.“ Walt nickte und wir gingen in sein Büro um das Buch zu holen. Ich nahm es entgegen und lief zügig nach Hause um die Seiten möglichst rasch durchblättern zu können. Jede einzelne Seite inspizierte ich auf meiner Suche nach Details, die mir die Wahrheit irgendwie näher bringen würden. Leider stellte ich relativ schnell fest dass die Kinder bereits fast alle wichtigen Aspekte der Geschichte auf der Bühne nacherzählt hatten. Doch dann erreichte ich die Stelle des Buches an der ich rausgestürmt bin und folglich nicht mehr mitbekommen habe:
Doch plötzlich war ein kleiner Funke Hoffnung in der Ferne sichtbar. Eine Laterne näherte sich dem Garten und Silhouetten eines Mannes waren zu erkennen. Das Licht verschwand um die Ecke des Hauses und es klopfte an der Außentür. Der Junge sprang blitzartig vom Fenster auf, tastete sich durch das völlig dunkle Haus bis zum Eingangsraum vor und öffnete das Schloss an der Tür. Er hatte mit seinem Vater gerechnet, doch vor ihm stand der Dorfälteste von New Andora. Der Junge lief auf ihn zu und umarmte ihn. Mit Tränen in den Augen schluchzte er „Wo sind meine Eltern?“ Völlig erschrocken sah sich der Dorfälteste um. Er war gekommen um der Familie ein frohes Weihnachtsfest zu wünschen, doch mit der Abwesenheit der Eltern und der völligen Dunkelheit hatte er wahrlich nicht gerechnet. Er sorgte sich derweilen um den Jungen, heizte den Ofen ein, kochte ihm Tee und gab ihm Brot. Schließlich sprach er: „Ich verspreche dir, ich werde dafür sorgen dass deine Eltern zurückkommen. Doch sage mir zuerst, wo sind sie denn überhaupt hin?“ Der Junge begann zu erklären dass seine Eltern ihm einen hell leuchtenden Weihnachtsbaum versprochen hatten und wahrscheinlich auf der Suche nach dem Weihnachtslicht waren. Er deutete aus dem Fenster in Richtung Garten, wo der Weihnachtsbaum immer noch unbeleuchtet stand. Der Dorfälteste spürte eine tiefe Sehnsucht als der Junge vom Weihnachtsbaum erzählte. Er packte sich eine der Fackeln neben dem Ofen und nahm den Jungen an der Hand: „Komm, wir zeigen deinen Eltern wo sie hinmüssen. Wenn sie diesen unverkennbar schönen Weihnachtsbaum in der Ferne leuchten sehen werden sie gleich wieder hier sein.“ Die beiden verließen das Haus und gingen hinüber zum Weihnachtsbaum. Mithilfe des Lichts der Laterne zündete der Dorfälteste die Fackeln und daraufhin all die Kerzen an. Begeistert beobachtet wurde er dabei vom Jungen, der mit jeder weiteren erleuchteten Kerze ein Stück mehr strahlte. Der prächtige Weihnachtsbaum leuchtete endlich in all seiner Pracht und erhellte die nähere Umgebung. Plötzlich ertönten Schreie in der Ferne: „Da! Hier ist es!“ Der Dorfälteste und der Junge liefen sofort rüber zum Anhang vor dem Garten und blickten sich um. Die Schreie wurden lauter und sie erkannten die Silhouetten von zwei Menschen die in Richtung des Hauses liefen. Es waren die Eltern des Jungen! Ohne zu zögern rannte der Junge ihnen entgegen. Sie weinten vor Freude, drückten ihn und ließen ihn minutenlang nicht mehr los. Nach einer Weile erblickte der Vater den Dorfältesten neben dem Weihnachtsbaum stehen und lief zu ihm rüber um ihm von ganzen Herzen zu danken: „Wir hatten uns verlaufen. Der Schneesturm, der Nebel und die frühe Dunkelheit hatten wir total unterschätzt und so konnten wir nicht mehr erkennen wo unser Haus ist. Ohne das Licht vom Weihnachtsbaum hätten wir wahrscheinlich heute nicht mehr zurückgefunden. Ich weiß gar nicht wie ich Ihnen genug danken soll.“ Die vier gingen zurück in das Haus und alsbald brach der Dorfälteste wieder auf.
Ich schloss das Buch. Da ist sie also, die Verbindung zwischen Legende und Gegenwart, zwischen dem Jungen und mir. Irgendwo da draußen wartete jemand dem ich noch Hoffnung schenken musste, genauso wie es der Dorfälteste vor 100 Jahren tat. Und auch genauso wie Henry, der mir selbst vor 10 Jahren Hoffnung schenkte als er mir mit New Andora ein neues Zuhause gab. War die Legende etwa eine Art ständige Erinnerung der das jeweilige Oberhaupt der Stadt begleitete? Ich musste etwas tun. Als ich das Buch zur Seite legte schnappte ich mir eine Landkarte auf der New Andora und das Gebiet rundherum verzeichnet war. Mit einem Bleistift kreiste ich alle Hügeln rund um die Stadt ein. Insgesamt neun Hügeln hatte ich gefunden, die dem Ort in der Legende entsprechen könnten. Ich nahm mir vor an jedem Tag bis Weihnachten einen dieser Hügel zu besteigen. Mittlerweile waren bereits acht der Hügeln wieder durchgestrichen, da ich auf diesen in den vergangenen Tagen nur unberührte Natur oder längst verlassene Häuser vorgefunden hatte. Den letzten Hügel hatte ich bewusst auf den 23ten Dezember geschoben, da ich ihn eigentlich nicht mehr so schnell betreten wollte. Es war der Hügel auf dem ich vor 10 Jahren stand als ich erfuhr dass meine Heimat dem Erdboden gleichgemacht wurde. Doch es war Zeit über meinen Schatten zu springen.
Nachdem ich kurz durchgeatmet hatte kämpfte ich mich weiter durch die Schneemassen bis hin zum höchsten Punkt des Hügels. Als ich mir die acht bereits vollzogenen nutzlosen Versuche wieder ins Gedächtnis gerufen hatte, sank meine Motivation nur noch weiter und ich war kurz davor umzukehren. Doch endlich konnte ich am Horizont neben der noch schwach über de Horizont leuchtenden Sonne auch eine weitere Lichtquelle erkennen. Es sah so aus als würde ein Licht aus einem Haus nach außen dringen. War dies endlich ein Lichtblick nach all den erfolglosen Besteigungen der letzten Tage? Meine Motivation wurde wieder etwas befeuert und ich kämpfte mich weiter nach oben. Einige Meter weiter konnte ich dann auch klar erkennen, dass sich ein einstöckiges Haus am Rundgipfel des Hügels befand. Von New Andora aus konnte man dieses nicht sehen, da eine Steinformation davor stand welche die geringe Höhe des Hauses völlig überdeckte. Das Haus war schwach beleuchtet. Ich konnte nicht zuordnen um was für ein Haus es sich handelte, da ich den Hügel wie einen schwarzen Fleck in meiner Lebensgeschichte die letzten Jahre lang völlig ignoriert hatte. Vor dem Haus stand eine großer Kieferbaum, der ungefähr ein Stockwerk größer als das Haus war. Der Baum kam mir bekannt vor, da man deren Spitze bei genauerem Hinsehen von New Andora aus erblicken konnte. Doch von hier erkannte man erst wie groß und prächtig der Baum wirklich war. Außerdem bemerkte ich erst jetzt, dass der Baum von oben bis unten mit relativ großen rosafarbenen Kerzen beschmückt war welche jedoch alle aussahen als wären sie schon Jahre lang nicht nicht mehr angezündet wurden. Ihre Oberfläche war fast durchgängig von einer Schmutzschicht bedeckt und in der Schale lagen viele bereits verdorrte Blätter und weitere Ablagerungen der Natur. Neben den Kerzen bemerkte ich noch eine goldenfarbene autokennezeichenähnliche Tafel welche auf einem Meter Höhe in den Baumstamm genagelt wurde und horizontal in einer Art Kreisform über den gesamten Stamm ging. Die Sonne war mittlerweile allerdings so schwach, dass ich nicht erkennen konnte was sich darauf befand. Ich zückte ein Feuerzeug aus meiner rechten Jackentasche und hielt es nahe an die Tafel. Selbst dieses Licht war zu schwach, da kaum mehr Gas in dem Feuerzeug war. Das einzige was mir in der Situation helfen konnte, war eine oder zwei der Kerzen zu verwenden. Ich blickte mich um um sicherzustellen dass mich niemand beobachtete. Das Haus war rund 100 Meter vom Baum entfernt und zeigte, zumindest von der Ferne, keine menschlichen Aktivitäten. Außerdem war es mucksmäuschenstill. So griff ich auf den Zweig neben mir und versuchte mit beiden Händen eine der Kerzen herunterzuziehen. Da sie schon so lange unberührt war, musste ich eine ordentliche Menge Kraft aufwenden um sie aus dem Metallstab zu ziehen. Doch es gelang mir und ich konnte sie endlich mit den letzten verbleibenden Flammen des Feuerzeugs anzünden. Ich ging mit der Kerze um den Baum herum und hielt sie etwas schräg, sodass ich alle anderen Kerzen die ich höhenmäßig erreichte auch anzünden konnte. Die unterste Reihe von Kerzen auf dem Baum war nun erleuchtet und ich konnte den Text auf der Tafel, sowie das nähere Umfeld des Baums erkennen. Ich ging einige Schritte um den Baum herum, bis ich schließlich den den Beginn des Textes gefunden hatte.
„Ein Geschenk der Gemeinde Hedonia an das Kinderheim. Frohe Weihnachten!“
Kinderheim? Ich war verwirrt. Dass sich hier kein Jugendcamp mehr befindet und das Gebiet mittlerweile von der Nachbargemeinde Hedonia verwaltet wird, das wusste ich. Doch dass an genau diesem Platz ein Kinderheim gebaut wurde war mir nicht bekannt. Hatte Henry mir das vielleicht bewusst verschwiegen? Ich nahm einige Meter Abstand von dem Baum indem ich mich rückwärts wegbewegte. Der Baum musste eine enorme Ausstrahlungskraft haben wenn man all die Kerzen bis nach oben anzünden würde, dachte ich mir. Aber scheinbar ist das nie passiert. Völlig im Gedanken versunken bemerkte ich erst jetzt dass sich links vom Baum auf einmal etwas befand. Genau im äußeren Rand des Lichtkegels der vor dem Kerzenschein des Baumes ausging stand eine Person. Der Junge im schwarzen Umhang? Ich erstarrte für eine Sekunde, doch rief dann die Tatsache dass ich mir selbst versprochen hatte diese Geschichte endlich aufklären zu wollen zurück ins Gedächtnis. In kleinen Schritten näherte ich mich dem Jungen. Wie damals konnte ich kein Gesicht erkennen, weil er genau im stockdunklen Bereich außerhalb der Beleuchtung des Baums stand. Ich hielt kurz den Atem an und rief dann mit ruhiger, aber leicht ängstlicher Stimmlage „Hallo?“ und „Wer bist du?“ Keine Antwort. Der Junge machte nicht die kleinste Bewegung und stand starr wie eine Kerze da. Uns trennten nur noch ein paar Meter, als plötzlich aus der Ferne ein Schrei ertönte. „Da bist du also! Los, komm sofort zurück!“ Schockartig blickte ich in Richtung des Gebäudes, welches laut der Tafel am Baum wohl das Kinderheim war. Die Eingangstür war geöffnet und eine Frau stand vor ihr. Mein Blick fiel zurück zum Jungen. Er stand nicht mehr vor mir. Ich lief prompt zu der Stelle wo er stand und sah mich um. Ich konnte seine Silhouette ganz leicht in der Ferne vor dem Kinderheim erkennen. Starr verharrte ich in der Position und versuchte mehr von ihm zu erkennen. Doch bis auf den schwarze Umhang, der nun bei der Eingangstür sichtbar war erkannte ich nichts. Der Junge drehte sich nicht um und wurde von der Frau sofort gepackt und förmlich in das Haus hineingeschoben. Die Frau hatte mich scheinbar nicht gesehen, da sie die Tür wieder schloss ohne nochmal hinauszusehen. Wurde der Junge etwa von dem Licht des Weihnachtsbaums angezogen, so wie in der Legende? Ich drehte mich wieder zur Seite und inspizierte den Baum näher. Einige der Äste waren relativ dick und könnten wohl bestiegen werden wenn man hinaufklettern würde. Aber ich konnte doch nicht einfach die Kerzen von einem Baum anzünden der weder mir, noch der Stadt gehörte. Ich blickte nochmal hinüber zum Kinderheim und sah dass inzwischen drei Kinder am Fenster im ersten Stock zum Baum herunterblickten. Man konnte deutlich erkennen wie überrascht und erfreut sie waren dass auf einmal ein paar Kerzen in der sonst völligen Dunkelheit aufleuchteten. Wieder rief ich mir die Legende vom Schatten Freejas ins Gedächtnis. Ist es meine Aufgabe den Kindern ein Stück Hoffnung ins Gesicht zu zaubern wie es einst der Dorfälteste mit dem Jungen tat? Ich bin den gesamten Weg hier heraufgekommen, jetzt muss ich die letzten Meter auch noch gehen, dachte ich mir. Und so nahm ich die Kerze die ich auch vorhin verwendet hatte wieder an mich und versuchte auf einen der größeren Äste zu steigen. Es war ein ziemlicher Drahtseilakt mich mit einer Kerze in der Hand auf den Kieferbaum herumzubewegen, doch mit der Zeit hatte ich den Dreh raus. Manchmal machte ich zu ruckartige Bewegungen und die Kerze erlosch. So musste ich wieder etwas hinunterklettern und die Kerze mithilfe einer anderen noch leuchtenden Kerze wieder anzünden. Nach rund einer Dreiviertel Stunde hatte ich es geschafft. Alle Kerzen leuchteten auf und der Baum strahlte endlich eine weihnachtliche Aura aus. Ich kletterte vorsichtig nach unten, setzte die letzte Kerze wieder an den Baum und ging einige Meter vom Baum weg. In freudiger Erwartung blickte ich rüber zum Kinderheim, doch alle Kinder beim Fenster waren wieder verschwunden. Doch dann öffnete sich die Tür und die Frau von vorhin kam mit rund 20 Kindern heraus. Die Kinder stürmten zum Baum hinüber als würden sie um ihr Leben rennen. Sie umkreisten mehrfach den Baum, lachten und wälzten sich im Schnee. Schließlich kam auch die Frau mit einem Stock in der Hand, der ihr linkes Bein beim Gehen stütze, an und ging zu mir herüber. Sie kam mir auf irgendeine Art und Weise sehr bekannt vor.
„Darauf haben sie schon jahrelang gewartet.“, sagte sie und grinste über das ganze Gesicht. „Ich nehme an Sie wurden vom Bürgermeister von Hedonia geschickt?“
Ich antwortet ihr: „Nein, ich komme aus New Andora hierher. Ich war… eigentlich nur auf Erkundungstour, wenn man das so nennen kann.“
Sie sah mich überrascht an: „New Andora? Seltsam. Der Baum wurde uns damals von Hedonia geschenkt. Aber gekommen ist danach nie jemand…“
Ich antwortete: „Ich nehme an er war nie erleuchtet? Die Kerzen waren, gelinde gesagt, schon etwas verwuchert.“
Sie nickte und begann zu erklären: „Richtig. Für den Bürgermeister war das Schenken des Baums wohl schon genug um sein Gewissen zu besänftigen und davon zu überzeugen dass er uns ‘unterstützt‘. Gekommen ist danach nie jemand um ihn erleuchten zu lassen oder zu pflegen. Und das obwohl es den Kindern damals versprochen wurde als sie den Baum aufgestellt hatten. Ich selbst komme leider mit meinem krummen Bein nie im Leben auf den Baum hoch. Und ansonsten gibt es leider niemanden hier.“
Ich war völlig schockiert von dem was ich gehört hatte und entgegnete: „Warte… Sie sind die einzige Erwachsene hier?“
„Genau. Früher war hier mal ein Jugendcamp, das ist aber mittlerweile schon vor längerer Zeit verlegt worden. Ich bin die einzige die hier geblieben ist, um die Waisenkinder weiter zu betreuen die nicht mitkommen durften. Wobei, offiziell hat es die sowieso gar nie gegeben.“
Ich wusste nicht wovon sie sprach und fragte weiter: „Waisenkinder? Offiziell? Ich weiß nichts von Waisenkindern, obwohl ich selbst mal hier im Camp war. Was hat es damit auf sich?“
Sie erklärte mir: „Die gibt es auch erst seit ein paar Jahren. Ich war es die sie damals hier aufgenommen hatte. Wobei, der Auslöser dafür war Henry, der Bürgermeister von New Andora. Er hatte vor einigen Jahren ohne zu zögern ein Kind aufgenommen dessen Heimat zerstört wurde. Diese Selbstlosigkeit hatte mich damals sehr stark inspiriert. Und da war für mich klar welchen weiteren Berufsweg ich einschlagen werde.“, sagte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie streckte ihre Hand aus. „Ich bin übrigens Cora.“
Plötzlich erinnerte ich mich. Cora war eine meiner Betreuerinnen im Camp. Und das Kind von dem sie sprach war mit großer Wahrscheinlichkeit ich selbst. Auch ich streckte die Hand aus. „Cosmo. Vielleicht haben Sie den Namen ja schonmal gehört.“
Sie sah mich für fünf Sekunden völlig baff an und sagte schließlich: „Du… du bist es ja wirklich.“
Wir redeten noch eine gute Viertelstunde, ich erklärte ihr dass ich jetzt neuer Bürgermeister von New Andora sei und was sich sonst so neues tat. „Wenn sich Hedonia schon nicht um das Heim sorgen kann, dann werden wir das tun. Du hast mein Wort. Das ist ja wohl das Mindeste was ich tun kann. Wenn Henry davon wüsste wäre er ganz außer sich.“, sagte ich zum schließlich.
Als ich den Satz beendet hatte sah ich mich um und bemerkte wie die Kinder immer noch neben dem Weihnachtsbaum spielten. Einige liefen herum, andere lagen im Schnee, aber ein Junge stand nur starr da und blickte auf den Weihnachtsbaum. Ich konnte von der Seite nur den schwarzen Umhang erkennen, daher ginge ich langsam näher ran. Ich zeigte mit dem Finger auf ihn und sah Cora an. Sie nickte und ging mit mir mit. Seitlich näherten wir uns ran und schließlich konnte ich Teile seines Gesichtes aus der Kapuze des Umhangs hervorragen sehen. Es war ein ganz normaler ungefähr acht Jahre alter Junge mit blauen Augen, brünetten Stirnfranzen und knallroten Backen. Sein Mund war geöffnet und er lachte. Plötzlich blieb Cora stehen. „Das… glaube ich jetzt nicht.“, sagte sie. Ich drehte mich um und sah sie an. Sie sprach weiter: „Das nennt man wohl ein wahres Weihnachtswunder. Ich habe Tom noch nie zuvor lachen sehen.“ In diesem Moment fiel mir ein mächtiger Stein von Herzen, der mich die letzten Wochen ständig begleitete. Tom. Das war also sein Name. Das Rätsel war endlich gelöst. Der Junge hat ein Gesicht bekommen. Er lief schließlich zu den anderen spielenden Kindern. Cora war noch immer völlig überrascht und wir unterhielten uns noch für eine Weile, bis ich schließlich wieder nach New Andora aufbrach. Ich hatte in der Zwischenzeit vollkommen die Zeit übersehen. Morgen musste ich immerhin früh auf, da die Jasra Weihnachtsfeier auf dem Plan stand und ich erst noch nach Silvercoast Island reisen muste. Ich verabschiedete mich bei Cora und den Kindern und ging den Hügel wieder hinab. New Andora leuchtete mir aus der Ferne sehr hell entgegen, sodass ich mein Ziel gar nicht verfehlen konnte. Völlig unerwartet kamen mir beim Hinabsteigen immer wieder einzelne Leute entgegen. Alle erzählten mir so ziemlich das gleiche: „Wir haben das Licht am Hügel gesehen und wollten unbedingt nachsehen was das ist.“ oder „Was leuchtet denn da schönes vom Hügel auf die Stadt herunter?“ und so weiter. Das einzige was ich all den Menschen antwortete war: „Seht selbst, es ist wunderschön.“
Nach etwas über einer Stunde kam ich wieder vor meinem Haus in New Andora an. Ich schloss die Tür auf, zog meine völlig durchnässte Winterkleidung aus und ging in den Aufenthaltsraum. Das Buch mit der Legende, welches mir Walt lieh lag immer noch aufgeschlagen auf der Wohnlandschaft. Doch etwas war anders. Auf der zuvor leeren letzten Seite leuchte plötzlich ein neuer Absatz hervor. Ich ging zum Buch, nahm es hoch und las was dort stand.
Seine Aufgabe als Ältester hatte er für diese Familie zwar fürs Erste erfüllt, doch gab es noch genug Arbeit die er vor sich hatte. Diese und viele weitere Menschen brauchten ihn, den Helden ihres Alltags der ihnen in den dunkelsten Momenten wieder Hoffnung schenke. Den Helden, der es schafft den Schatten Freejas wieder mit Licht zu durchfluten.
Ich legte das Buch wieder zur Seite und dachte nach. Helden gab es einige in meiner Geschichte. Sie besaßen Namen wie Henry oder Cora. Meinen Namen konnte ich aber wahrlich noch nicht an diese anderen hängen, doch habe ich heute zumindest einen wertvollen ersten Schritt dafür gesetzt dass dies vielleicht eines Tages einmal passieren wird. Ich hatte mein persönliches Projekt gefunden. Währenddessen sah ich aus dem Fenster hinauf auf den Hügel. Schwach, aber deutlich sichtbar konnte man den neu dazu gewonnenen Lichtblick erkennen, den ich heute entzündet hatte. Freeja hatte einen Schatten weniger.