Mit Schal, Mütze und einer noch durchnässten Jacke bewaffnet wärmte ich meine Hände über einer Tonne gefüllt mit allerhand brennendem Schutt, den ich mit einigen anderen Obdachlosen aus dem Müll anderer Leute fischte. Wir hockten und saßen – andere lagen im Vollrausch – in der U-Bahnstation von Heela, weil uns die massive Decke vor der Kälte und den Schneemassen bewahrte. Draußen hatte sich nämlich der Winter angekündigt, der die gefrorenen Eiskristalle bis zu meiner Kniekehle zu stapeln pflegte. Ich müsste lügen, würde ich nicht gestehen, dass ich ertrunken wäre, wenn ich bis zum schlagartigen Schmelzen des Schnees in der U-Bahn geblieben wäre.
Wie es so weit kam, dass Birf Jasra sein gewohntes Habitat der beschaulichen Mine in Nordheela verließ um sich mit Pennern abzugeben, die sich voraussichtlich nicht mehr an den Parkplatz ihres Einkaufswagens, geschweige denn den Morgen danach erinnern konnten, fragt ihr euch jetzt sicherlich. Diese Frage ist berechtigt und ich will euch die Geschichte erzählen.
Als Anfang Dezember der erste Schnee gefallen war und die ersten Eiszapfen am Dach meines kleinen Hauses hingen wagte ich den Blick auf die veränderte Umgebung. Die beschauliche Wohnsiedlung von Nordheela war vollständig von einer weißen Eisschicht überzogen. Nach der routinierten körperlichen Pflege, die ich in der U-Bahn nicht mehr an den Tag legen konnte, zog ich mich dem Wetter gemäß an um die Lage zu erspähen.
Ein grauer Parka aus ehemaligen Beständen der Zeron Navy, gefütterte Stiefel, eine Wollmütze und Handschuhe sollten reichen. Ich stellte mich in voller Montur vor die Tür und öffnete sie langsam. Sie knarrte leise und offenbarte mir den Blick auf meinen Vorgarten. Ich wurde von der Reflexion der Sonne auf dem Schnee geblendet. Eins stand fest. Da war er. Der Winter. Weihnachten. Alles stand vor der Tür. Voller Vorfreude wagte ich den ersten Schritt nach draußen auf den gepflasterten Weg, der durch den Schnee nur schwierig zu erkennen war und machte eine schmerzhafte Entdeckung. Beim Auftreten meines Fußes gab die Schneeschicht zwar nach, jedoch schlitterte ich auf dünnem Eis, das sich unter dem Schnee befand, zwei Meter weit, bevor ich ausrutschte. »Verdammt nochmal!«, dachte ich, als ich mich wieder aufrichtete. Es war selbstverständlich, dass der Gehweg geräumt werden müsste. Mit vorsichtigen kleinen Schritten bewegte ich mich um mein Haus und blickte auf den künstlich angelegten Strandabschnitt Nordheelas, der sich dem winterlichen Bild fügen musste. Die ehemalige Strandanlage entpuppte sich als Fläche zum Schlittschuhlauf und der vereiste Sand als robuster Untergrund. Trotzdem entschloss ich mich dieses Jahr auf den Schlittschuhlauf zu verzichten. Das Risiko wurde mich bewusst, als ich von der Geschichte unseres örtlichen Kleingärtners und Vollzeitrentners Jeremiha Jenkins hörte. Dieser verlor ein Jahr zuvor das Gefühl in seinen Beinen, als das Eis unter ihm brach und ihn ins Wasser beförderte. Glücklicherweise erhielt er es wieder, als er beim Transport von der Eisfläche auf sein Steißbein fiel. Er entkam aus eigenem Antrieb vom Eis und beschwerte sich lauthals über die Jugend. Man muss sie einfach lieben, diese Senioren.
Zurück in meinem Haus entflammte ich zunächst den Kamin. Das leise Knistern hatte schon etwas Idyllisches. Arbeit musste dennoch getan werden. Es war also Zeit dafür, die Werkzeuge aus dem Schuppen zu holen und die Schneemassen vom Gehweg zu beseitigen. Streng genommen besaß ich jedoch keinen Schuppen, aus dem ich mir einen Schneeschaufel hätte holen können. Mein Haus war jedoch vielmehr ein Anbau, als nur ein einfaches Heim. Durch einen Durchbruch in der Wand gelangte man stattdessen in eine kleine Höhle, die früher als Mine von Nordheela diente. In der Mine hatte ich einen kleinen Holzschuppen angelegt, in dem ich Werkzeug aufbewahrte. Neben diversen Spitzhacken, Schraubenschlüsseln und Akkubohrern fand ich meine knallrote Schneeschaufel, die mir jedes Jahr gute Dienste erwies.
Als ich die Mine verließ und durch mein erwärmtes Wohnzimmer schritt vernahm ich jedoch ein merkwürdiges Geräusch, welches das Knistern meines Kamins übertönte. Es kam vom kleinen Hof hinter dem Haus, eine Art Scheppern. Zunächst nahm ich an, dies war nur der Schnee der von meinem Dach auf die Mülleimer fiel, aber ich sollte falsch liegen. Als ich das Haus verließ, den Gehweg von Schnee und Eis befreite und meinen Weg um das Haus zum Hinterhof fortsetzte ertönte das Geräusch wieder. Ich schritt in den Hof, konnte aber statt verschneiter Container nichts erkennen. Dann fiel es mir auf: Ein Container war nicht verschneit. Irgendetwas schien darin gefangen und knallte gegen Deckel und Türen.
Für einen Moment lauschte ich und konnte eine tiefe Stimme aus dem inneren des Containers hören: »Die in Freeja wären stolz auf so ein zuhause, Tim, die frieren in den Wäldern!« Wieder schepperte etwas gegen die Seiten des Containers. Vorsichtig schritt ich auf den Container zu und zog die Abdeckung auf. Das erste was ich in diesem Moment sah, war ein Pelz der mich anzuspringen schien. »Tim, lass das!«, ertönte dieselbe rauchige, tiefe Stimme wie vorher. Das Fellknäuel sprang wieder zurück in den Mülleimer. Ich konnte vier Beine ausmachen, allerdings war ich mir über die Art des Tieres im Unklaren. Ich erwartete eine Reaktion aus dem Container, stattdessen vernahm ich nur Stille, die wenige Sekunden später von einem chronischen Raucherhusten unterbrochen wurde. »Sehr erfreut.«, bemerkte ich ironisch als ich auf den Metallkasten zuging.
Drinnen saß ein Mann der am Regler eines alten Radios drehte, er sah aus als wäre er 50 Jahre alt, trug eine schwarze Wollmütze, fingerlose Handschuhe und eine grünbraune Plastikjacke. »Und wer sind Sie?« Zunächst schenkte mir der gelassene Mülltonnenbesetzer keinerlei Beachtung, dann drehte er sich zu mir und musterte mich. Sein Bart war ungepflegt, typisch für einen Streuner. Außerdem hatte er graue Augen, die von tiefen Augenringen umrandet waren. Im Container fand sich noch ein kaputter Schlafsack und das braune Fellknäuel auf Beinen, das am Inhalt der Plastiktüte interessiert zu sein schien, die neben ihm lag. »Ich bin Pickles.«, sagte der Tonnennomade. »Birf Jasra.«, ich nickte ihm bestätigend zu. Er vollzog keine Regung. »Sie leben in meiner Mülltonne.«, fügte ich hinzu. »Ihre Mülltonne? Die Mülltonne stand einfach leer, da habe ich es dem Eins– Einsie– dem Krebs mit dem Haus gleich getan und es mir genommen.« »Die Mülltonne war nicht leer. Was haben Sie mit dem Inhalt gemacht!?« »Stimmt. Der Inhalt. Den hab ich mir angeguckt.« »Was fällt Ihnen ein!?« »Jaja, Ihre Briefe, Rechnungen und Abmahnungen gehören auch nicht in die Gelbe Tonne« Dieser Mann, Pickles, blieb gelassen, obwohl ich schwören könnte mein Blick hätte ihn in diesem Moment durchbohren müssen. »Verschwinden Sie!«, stieß ich heraus und fasste mir verzweifelt an den Kopf. Gewissensbisse schien ich in diesem Moment nicht zu haben. »Warum? Ich find’s nett hier. Da draußen iss’et kalt.«, antwortete Pickles ohne eine Miene zu verziehen. »Natürlich ist es draußen kalt. Es ist Winter.« »Ich will nicht zurück in die Kälte und Tim auch nicht.« Pickles wurde sichtlich angespannter. Er zuckte leicht, so als hätte er scheinbar wirklich keine Lust zurück auf die Straße zu gehen. Irgendwo konnte ich ihn damit verstehen. Schließlich ging es doch um Weihnachten, oder? »Sie Pen–… Pickles, hören Sie mir zu, das ist mein Müllcontainer. Sie könnten ihn gerne haben, aber irgendwo müsste ich einen neuen bekommen.«, fuhr ich fort. »Ich hab‘ dir ’nen Vorschlag zu machen.« Nun war ich hellhörig. Vielleicht würde sich das Blatt wenden und der Obdachlose Pickles sähe ein, dass dies nicht der richtige Ort für ihn war. »Du lässt mich in dein Haus rein.« Ihn ins Haus hineinlassen? Das mochte ich ihm nicht verwehren, aber der Rest seines Vorschlags folgte mit bitterem Nachgeschmack. »Ich verschwinde nicht, ehe du genauso gelebt hast wie ich.« Ich wusste nicht recht ob ich Pickles trauen sollte und fragte: »Sie wollen, dass ich in Mülltonnen hause?« »Ja, aber um das ’n bisschen zu verschärfen: Wenn du das Ganze nicht mindestens ’n paar Tage überstehst, krieg ich Haus. Wenn du’s nicht mindestens ’ne Woche überstehst, dann krieg ich deinen Container.«
Mein Haus? Das war doch absurd. Und eigentlich hätte ich diesen Mann aus dem Mülleimer verjagen sollen, aber er hielt die besseren Karten. »Entweder du bist einverstanden oder ich bleibe hier.«, drohte er mir mit einem verschmitzten Lächeln an. Ich war kein Freund von gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Weihnachtszeit und dieser Mann hatte irgendwie Recht… Ich konnte nichts beurteilen, was ich noch nicht kannte, besonders seinen Lebensstil. »Gut.«, bemerkte ich spontan, »aber wir lassen es beglaubigen.« Der Konflikt um einen Müllcontainer oder sogar mein ganzes Heim gegen einen Obdachlosen. Und so Leid er mir tat wollte ich es doch verteidigen. Das einzige was ich hoffte war, dass er sein Wort hielt. Nachdem ich etwas verfasst hatte, was man als Wettvertrag hätte auffassen können, reichte ich es Pickles. Er unterschrieb schleunigst und gab mir die Plastiktüte aus dem Container. »Hier ist das was’se brauchst.« In der Tüte befand sich Kleidung, die entsetzlich nach Tierfutter stank. Es war ein zweiter Satz Kleidung von dem, was Pickles trug und ich zog es an als ich das nächste Mal das Haus betrat. »Eine Sache noch«, sagte ich und blickte Pickles mit einem Stirnrunzeln an, »Wo soll ich als nächstes hin?« »Geh zum Eingang der U-Bahn. Frag nach ’n Tunnelstrolchen.«, erklärte er mir. Als ich die stinkenden Klamotten angezogen hatte und noch einmal zum Container trat musste Pickles Tim zurückhalten. »Die Zeit läuft ab jetzt.«, sagte ich.
Mittlerweile war man auf meinen Sinneswandel im Lebensstil aufmerksam geworden und ich musste dem einen oder anderen Nachbarn erklären, wieso ich aussah als würde ich ein Survival-Training durchstehen müssen.
Ich bewegte mich schleunigst zur U-Bahn, versuchte Blickkontakt zu vermeiden und schritt schnell die Treppe hinunter, ohne auf dem Eis auszurutschen. Ich hatte mir wirklich keine Sicherheiten geschaffen. Verdammt, ich hatte etwas Dummes getan! Eine Gruppe Menschen mit dreckiger Kleidung lehnten sich gegen einige Einkaufswagen die am Eingang zur U-Bahn geparkt zu sein schienen. Einer schritt auf mich zu, seine gelben Zähne bildeten sich zu einem Grinsen aus als er sprach: »Du musst Birf sein, wir wissen Bescheid. Willkommen in der U-Bahn von Heela. Das hier ist die Endstation.«
Christmas in a Trash Can
geschrieben von Birf Jasra