Was für eine Stille. Ich saß auf meiner dunkelroten Sesselbank und starrte die Wand an.
Irgendwie ist es ungewohnt, wenn man allein auf dieser Insel ist. Chris ist seit knapp einer Woche weg. Steffen ist ebenfalls verreist. Er wüsste auch nicht, wann er wiederkäme, meinte er, als ich ihm vor einer Woche unten am kleinen Hafen traf.
Von Isi hab ich auch schon seit Monaten nichts mehr gehört. Es war, als hätte es die Jasra Familie nie gegeben.
Es klopfte an meiner Tür. Ich sah durchs Fenster unseren Postboten Marty ungeduldig von einen aufs andere Bein hüpfen.
Die sich im Meer spiegelnden leuchtenden Sonnenstrahlen am Horizont wurden langsam von einer gewaltigen Wolkendecke verdrängt.
»Hey Marty«, sagte ich, nachdem ich die Tür aufgemacht hatte und die frische Seeluft spürte, »hast du noch viel zu tun?«.
»Nicht mehr viel, Jack. Muss nur noch ein Paket zustellen, dann komm ich rechtzeitig heim, ehe das Unwetter losbricht«, meinte Marty und starrte die träge Wolkendecke an. »Achja, hier, dein Brief«.
Ich nahm einen hellgelben Briefumschlag und musterte ihn kurz. »Gut, bis dann«, sagte ich und schloss die Tür hinter mir.
»Komisch.. Der hat ja gar keinen Absender«, murmelte ich vor mir hin, während ich mich setzte und den Briefumschlag aufmachte.
Ich klappte den Brief auseinander und las ihn mir durch.
»Gehen Sie nicht aus dem Haus.
…oder Sie werden es bereuen.
Der Unterzeichner«
Mir lief es kalt den Rücken runter. Wieso… Wieso werde ich bedroht? Und wieso soll ich hier drin bleiben? Ich atmete tief ein und wieder aus.
»Vielleicht werde ich ja gerade beobachtet?«, schoss es mir durch den Kopf.
Ich sah mich um und entdeckte am Fenster etwas, das sich bewegte. Ich hielt den Atem an. Doch der Schatten war bereits nicht mehr zu sehen. So schnell ich schleichen konnte bewegte ich mich zur Tür und öffnete sie.
Mit einem leisen Knarren schwang sie aus und ich schaute um die Ecke, aber es war nichts ungewöhnliches zu sehen. Mittlerweile war der ganze Himmel bedeckt und in der Ferne war ein leichtes Rumpeln zu hören.
»Oh Gott – Der Brief!«, schoss es mir durch den Kopf, als ich bemerkte, dass ich nun mein Haus verlassen hatte. Vor mir erstreckte sich etwas grauenvolles…
»Grundgütiger, wer hat denn hier hingeschissen?«, sagte ich und drehte mich um.
Die Weglampe zum Hafen runter flackerte ruhig. Plötzlich erkannte ich am Lokal bei den Stegen eine Person, die wie auf der Flucht zu sein schien.
Ich schlich zum Hafen runter und versteckte mich sogleich hinter einer Holzwand, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Mit lautem Glocken-Gebimmel fuhr ein kleines Holzschiff in den Hafen. Der Steg war abgesehen von mir und der unbekannten Person menschenleer. Ich konnte das Gesicht nicht ausmachen, der Unbekannte stellte sich geschickt in den Schutz des Schattens. Als er sich in meine Richtung umdrehte, senkte ich schnell meinen Kopf. Anscheinend betrat er die Fähre, da ich nun knarrende Schritte vom Steg hörte.
So laut das Schiff einlief, so still legte es wieder ab. Ich schlich mich so unauffällig wie möglich am Geländer des Steges entlang und bewegte mich nun parallel mit der Fähre.
Ein kurzer Sprung und ich landete auf dem sehr schmalen Hinterdeck des Schiffes, das nun ordentlich auf Fahrt kam.
Der Steg von Silvercoast Island entfernte sich langsam immer weiter. Ich musste immerzu an den Brief denken.
Was passiert denn jetzt, nachdem ich die Regel gebrochen habe? Weiß dieser merkwürdige Unterzeichnender überhaupt, dass ich nicht mehr auf der Insel bin? Schließlich hatte ich sie ziemlich schnell und unvorhersehbar verlassen. Oder ist diese Person letztlich der Unbekannte auf diesem Schiff?
Ich blickte mich um und konnte nur noch die Umrisse von Silvercoast Island erkennen.
Eine Art bläulicher Nebel legt sich langsam um uns herum.
Völlig unerwartet hörte ich ein dumpfes Geräusch. Ich drehte mich um und war verwirrt. Jemand war aus dem Boot ins Wasser gesprungen – und anscheinend freiwillig. Ohne sich umzusehen schwamm der Unbekannte davon. So leise wie nur möglich sprang ich vom fahrenden Schiff ins Wasser.
Zu meiner Verwunderung war das Wasser relativ warm. Ich sah mich in alle Richtung um und erkannte erst auf dem zweiten Blick den schattenhaften Kopf des Unbekannten. Langsam schwamm ich ihm nach.
Jetzt erklärte sich auch, warum das Wasser hier so warm ist. Vor mir erschien langsam eine Insel, die scheinbar eine warme Quelle hat und über ein Wasserfall ins Meer abzweigt.
Das unbekannte Wesen näherte sich dem Strand und bewegte sich nun mit seinen Füßen geradewegs vorwärts auf eine Nische im Wald zu. Nach wenigen Metern spürte ich auch den kieseligen Sand unter meinen Füßen. Ich sah mich noch mal um. Gefolgt war mir niemand.
War es irgendwie nicht bescheuert? Alleine in diesen Wald zu gehen, in dem vermutlich ein gefährlicher Unbekannter haust?
Ich schüttelte mich kurz und verdrängte die angsterfüllten Vorstellungen aus meinem Kopf.
Es war kein großartig verzweigter Weg. Um mir herum war eine scheinbar undurchdringliche Mauer von breiten Bäumen. Je tiefer ich reinging, umso mehr verschlangen die Baumkronen das letzte bisschen Abendlicht.
Es war eine mörderische Stimmung. Ich konnte kein einziges Tier im Wald hören, nur ein sanftes Rauschen vom Wind, das die Gräser leicht und gleichmäßig schwingen ließ. Der Himmel hatte sich nun in ein gräuliches Blau verwandelt und aus der Ferne war ein leichtes Donnern zu hören.
Einigermaßen orientierungslos setzte ich meinen Weg ins Innere des Waldes fort.
Endlich war ich am Ende des Pfades angekommen. Eine weitere Nische zwischen einer Baumfront war vor mir, aus der ungleichmäßig ein flackerndes oranges Licht fiel. Dazu gesellte sich ein unruhiges Knistern, das sich wie lodernde Flammen anhört.
Ich drehte mich um und wollte am liebsten zurücklaufen, aber ich hatte das dumpfe Gefühl, als gäbe es kein Zurück mehr.
Angsterfüllt schritt ich mit zitternden Füßen vorwärts, nur um etwas total Unerwartetes zu erleben.
Unglaublich.
Die Jasra-Familie hat mich komplett in Stein geschlagen.
»Es hatte alles gepasst«, meinte Chris zu mir, während wir die Statue beobachteten. Sie thronte auf einer Art Tempel und wurde von den Fackeln in einem angenehmen orange angestrahlt. Die Jasras und jene, die es nicht sind, kamen zu mir und gratulierten mir.
»Wir sind mit diesem hoffentlich zeitlosen Geschenk gerade fertig geworden«, fuhr Chris fort, doch irgendwie begriff ich das noch alles nicht. »Ihr habt meinen Geburtstag schon so lange vorbereitet?«, fragte ich verwirrt. »Ja, wir mussten das ganze Material erst mal hierher bringen«, meinte Cosmo. »Und damit du wir uns nicht verplappern, haben wir alle vorgeschoben verreist zu sein«, fügte Steffen hinzu.
»Der Brief diente einzig und allein dazu, dass du dem Podnup folgst – und wie erwartet hast du genau das getan«, sagte Raichi.
Ich war total sprachlos. In was für einer unglaublichen Familie ich doch lebe.
Der Abend brach an und wir machten uns alle auf den Weg zur Jasra Bar. Chris hatte bereits alles für eine gesellige Stimmung herrichten lassen, und so erzählten wir uns redselig die lustigsten Stories und tranken das Exklusiveste. Da hätte sogar ein von und zu Wilfredarsch seinen Gefallen gefunden.